Es könnte vorerst das letzte Fest sein, das die syrische Familie in Dänemark gemeinsam feiert. Die Wohnung ist für den islamischen Monat Ramadan dekoriert, an einer der Wände hängt ein gerahmtes Bild der Kaaba, des heiligen Schreins in Mekka. „Wir werden niemals zu einem Regime zurückkehren, das meinen Vater, meine beiden Cousins und viele Familienmitglieder getötet hat. Bashar al-Assad hat keinen Krieg gewonnen und unter keinen Umständen Sicherheit gebracht “, sagt Mohammed Ahmed al-Ata, der in der syrischen Hauptstadt Damaskus geboren ist. Er ist 18 Jahre alt. Die Al-Atas haben es bis hierher geschafft, zu dieser kleinen Wohnung in der dänischen Stadt Vejle, gut zwei Autostunden von Kopenhagen entfernt. Seine Mutter, sein älterer Bruder und zwei jüngere Schwestern sitzen auf bunten Matratzen um Mohammed herum. Am 25. März erhielten sie einen Brief, in dem sie darüber informiert wurden, dass die Aufenthaltserlaubnis der Mutter und der beiden Mädchen nicht erneuert worden war. Die drei müssen zurück nach Syrien, in die alte Heimat.
„Ich habe keine Erinnerung an Syrien. Wir haben dort keinen einzigen Freund “, sagt der zehnjährige Sahed in fließendem Dänisch. „Ich habe alle meine Freunde hier in Vejle“, sagt ihre zwölfjährige Schwester Tasnim.
Nach Schätzungen der dänischen Behörden müssen die beiden Brüder bei einer Rückkehr in die syrische Armee einen Pflichtdienst leisten. Deshalb dürfen sie bleiben. Dies gilt nicht für Mutter Sabrie und ihre Töchter, deren Ehemann 2012 angeblich von einem Scharfschützen des Assad-Regimes getötet wurde. Die Familie lebt seit 2016 in Dänemark zusammen. Jetzt, fünf Jahre später, droht ihnen die Trennung.
Die dänische Regierung bricht mit einem europäischen Konsens: Wer wie die Al-Atas vor dem Assad-Regime aus Syrien in die EU geflohen ist, war zumindest vor Abschiebung sicher. Weil die Kämpfe weitergehen. Und es gibt keine Sicherheit für Rückkehrer.
Ausgerechnet Dänemark geht jetzt einen anderen Weg, ein Land, das seit Jahrzehnten für seine liberale Einwanderungspolitik bekannt ist. Die regierenden Sozialdemokraten haben seit Jahren den Kurs in der Migrationsfrage verschärft und waren bei Wahlen enorm erfolgreich. Was bisher wenig bekannt ist: Dänemark ist nicht das einzige Land, das sich auf Deportationen nach Syrien vorbereitet. Die Bundesregierung arbeitet an ähnlichen Plänen.
Die Familie Al-Ata stammt aus Daraja, einem Vorort der syrischen Hauptstadt. Der dänische Flüchtlingsrat stufte die Region um Damaskus im Februar als „sicher“ ein. Sicher genug, um Leute dorthin zurückzuschicken. Seit einiger Zeit gibt es keine Kämpfe mehr in der Hauptstadt, Zivilisten erfahren kaum mehr willkürliche Gewalt. Dies ist das Argument des Rates, der als unabhängige Behörde gilt, aber dem Ministerium für Ausländer und Integration in Kopenhagen unterstellt ist. Bis Ende des Jahres könnten 500 syrische Flüchtlinge in Dänemark von der neuen Verordnung betroffen sein.
Obwohl die Einwanderungsbehörden die Aufenthaltserlaubnis von Sabrie und ihren beiden Töchtern nicht verlängert haben, können sie nicht einfach in ein Flugzeug nach Syrien gesetzt werden, wie dies bei abgelehnten Asylbewerbern aus Afghanistan und dem Irak der Fall ist. Denn obwohl die dänische Regierung das Gebiet um Damaskus als sicher ansieht, will sie nicht allein und ohne seine EU-Partner diplomatische Beziehungen zum Assad-Regime aufnehmen. Ohne eine Kontaktperson in Syrien kann es jedoch keine Abschiebungen geben.
Daher liegt die Zukunft für Teile der Familie Al-Ata in einem Deportationszentrum, das weit von ihrem Zuhause in Vejle entfernt ist. Mutter und Töchter dürfen das Zentrum nicht über Nacht verlassen, und die Mädchen dürfen auf unbestimmte Zeit nicht mehr zur Schule gehen. „Trotzdem ist es besser, dass sie hier sicher sind, damit wir sie zumindest besuchen können. Wenn unsere Mutter zurückgeschickt wird, besteht die Gefahr, dass sie verhaftet und gefoltert wird“, sagt Mohammed al-Ata.
Was er und seine Familie derzeit erleben, hat seinen Ursprung in einem „Paradigmenwechsel“, den die dänischen Sozialdemokraten 2019 zusammen mit mehreren rechten Parteien im Parlament beschlossen haben. Mit ihrer harten Haltung zur Einwanderungspolitik haben die Sozialdemokraten unter Premierministerin Mette Frederiksen dazu beigetragen, die Zahl der Sitze in der rechten dänischen Volkspartei bei den letzten Parlamentswahlen zu halbieren. Die dänischen Sozialdemokraten betrachten die Kombination von Isolation und klassischer Sozialpolitik als eine neue Erfolgsformel. Die neuen Abschiebungspläne sind der nächste Schritt.
Heute leben rund 44.000 Syrer in Dänemark. In Deutschland hingegen haben in den letzten Jahren 654.000 Menschen aus Syrien Asyl beantragt. Und in der Regel Genehmigung erhalten. Die Erkennungsraten lagen oft weit über 90 Prozent, weil allen Beteiligten klar war: Der Bürgerkrieg ist ein echter Grund für die Flucht, und die Situation in Syrien ist immer noch lebensbedrohlich.
Untersuchungen zeigen nun jedoch, dass die Bundesregierung auch daran arbeitet, syrische Flüchtlinge in ihre Heimat zu deportieren. Es sollte sich zunächst um verurteilte Kriminelle und islamistische Bedrohungen handeln. In Berliner Regierungskreisen ist seit langem von einem „Denkverbot“ die Rede, das vorher überwunden werden muss: dem sehr sozialen Konsens, nach dem Deportationen nach Syrien kategorisch abgelehnt werden sollen. Schätzungen zufolge gibt es derzeit mehrere tausend Syrer, die „gesetzlich verpflichtet sind, Deutschland zu verlassen“.
Es ist der Fall von Abdulla H., der die aktuelle Debatte begonnen hat. Der junge Syrer griff am 4. Oktober 2020 ein schwules Paar in Dresden mit einem Messer an, tötete einen der beiden Männer und verletzte den anderen schwer. Abdulla war den Behörden bereits als Unterstützer des „Islamischen Staates“ bekannt. Ein Terroranschlag. Wer hat (nicht zum ersten Mal) folgende Fragen aufgeworfen: Warum ist jemand wie Abdulla H. überhaupt noch hier? Hat ein mutmaßlicher Terrorist wie H. das Asylrecht in Deutschland nicht eingebüßt?
Nach dem Anschlag in Dresden ließ die Innenministerkonferenz in Deutschland das Abschiebungsverbot für syrische Flüchtlinge im Dezember 2020 auslaufen. Theoretisch sind seitdem Abschiebungen möglich. Bisher gab es jedoch wenig politische Unterstützung dafür.
Ein 37-seitiger vertraulicher Bericht des Auswärtigen Amtes vom Dezember 2020 soll als Entscheidungshilfe für die Innenbehörden der Bundesländer in Bezug auf Abschiebungsfragen dienen. An einer Stelle wird gesagt, dass die „Bedrohung der individuellen Sicherheit das größte Hindernis für die Rückkehr bleibt“ und dass sie „im Prinzip nicht auf einzelne Teile des Landes beschränkt ist“. Dies bedeutet, dass eine Deportation nach Syrien kaum mit den Genfer Flüchtlingskonventionen vereinbar wäre: Niemand darf in ein Land deportiert werden, in dem er aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, seines Geschlechts, seiner Religion oder seiner politischen Ausrichtung gefährdet ist. Das Bild, das der Bericht malt, ist erschütternd. In allen Teilen Syriens – unabhängig davon, wer dort regiert – sind schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. In den vom Assad-Regime kontrollierten Gebieten finden willkürliche Verhaftungen, Morde und Zwangsrekrutierungen statt. Jeder, der sogar als oppositionell gilt, läuft Gefahr, gefoltert zu werden oder zu verschwinden. Der Schutz vor staatlicher Gewalt und Willkür wird „erheblich reduziert“. Das Regime führt einen kriminellen Krieg gegen die Zivilbevölkerung und der IS konsolidiert sich. Eine politische Lösung ist „nicht vorhersehbar“.
Dennoch setzen insbesondere die Innenminister der deutschen konservativen Partei CDU den deutschen Innenminister Horst Seehofer und sein Team unter Druck, endlich Vorschläge zu unterbreiten, wie Syrer, die Straftaten begangen haben, aus dem Land gebracht werden könnten.
Auf die Frage antwortet das Ministerium vage: „Nach Ablauf der Abschiebungsstopps der deutschen Innenministerkonferenz wird derzeit geprüft, wie Kriminelle und islamistische Drohungen mit einem syrischen Pass abgeschoben werden können. Auf diese Weise wollen die Beamten von einem allgemeinen Abschiebungsverbot zu einer Überprüfung jedes Einzelfalls bei Kriminellen und Gefährdeten übergehen. “ Zahlreiche Gespräche mit Beamten auf Landes- und Bundesebene geben jedoch ein detaillierteres Bild. Auf diese Weise entsteht nur ein Zwischenstatus der Beratungen. Dies zeigt jedoch, dass die Abschiebungspläne der Bundesregierung weiter fortgeschritten sind als bisher bekannt.
In den letzten Monaten haben die zuständigen Beamten im Rahmen des Eliminierungsprozesses die einzelnen Regionen in Syrien untersucht, um festzustellen, ob dort eine Abschiebung möglich ist. Sie mussten zugeben, dass kaum ein Teil des Landes eine Option ist. Assad regiert im Südwesten um Damaskus, und die deutsche Regierung will wie die dänische nicht mit ihm zusammenarbeiten. Die Idlib-Region im Nordwesten steht immer noch unter der Kontrolle islamistischer terroristischer Milizen, die als Partner nicht in Frage kommen. Im Norden kontrolliert die Türkei einen 30 Kilometer breiten Streifen an der Grenze zu ihrem eigenen Staatsgebiet – aber der politische Preis für ein Abkommen mit Ankara über Deportationen in diesem Teil Syriens ist für die Deutschen zu hoch. Die einzige, wenn auch sehr kleine Gruppe von Menschen, die fast problemlos beseitigt werden konnte: In Deutschland wurden Handlanger des Assad-Regimes entlarvt, die in den entsprechenden Regionen wahrscheinlich nichts zu befürchten hätten. Für alle anderen Gruppen – und hier geht es in erster Linie um sie – würde nur der Nordosten an der Grenze zum Irak übrig bleiben. Die syrischen Kurden haben dort die Kontrolle, auch wenn der Einfluss des Assad-Regimes in letzter Zeit zugenommen hat. Anfang des Jahres untersuchten die Deutschen mit Hilfe von Verbindungsbeamten der Deutschen Kriminalpolizei in Istanbul die Lage in den kurdischen Regionen. Sie kamen zu dem vorläufigen Schluss, dass hier Abschiebungen möglich sein könnten. Ein von der CDU geführtes staatliches Innenministerium berichtete auch, dass die kurdischen Gebiete im Nordirak und in der Türkei derzeit für die Deportation von Syrern in Betracht gezogen werden.
Da islamistische Bedrohungen wie der Dresdner Attentäter Abdulla H. in Deutschland häufig bereits im Gefängnis sind, erwägen die Beamten, Kriminellen mit syrischen Pässen eine verkürzte Haftzeit in Deutschland anzubieten, wenn sie sich freiwillig bereit erklären, das Land im Gegenzug zu verlassen. Die Strafprozessordnung bietet hierfür die rechtlichen Möglichkeiten. In den letzten Monaten gab es jedoch unterschiedliche Aussagen über das mögliche Zielland einer solchen Aktion: Die bedrohten Menschen müssen nicht unbedingt nach Syrien reisen, wo sie unter dem Assad-Regime Folter und Todesstrafe ausgesetzt sind. Stattdessen könnten auch Drittländer wie die Türkei in Betracht gezogen werden. vorausgesetzt, die dortigen Behörden stimmten einem solchen Geschäft zu.
Der deutsche grüne Auslandssprecher Omid Nouripour ist empört über die Pläne der deutschen Regierung: „Seit drei Jahren setzen sich Assad und seine russischen Anhänger dafür ein, dass das Land wieder in Sicherheit ist, weil das Regime gewonnen hat. Wenn die Innenministerien auf die gleiche Weise argumentieren, werden sie Assad und seine Gräueltaten sauber waschen. “
Es ist noch nicht klar, welche konkreten Ideen das Bundesinnenministerium den Bundesländern im Juni vorlegen wird. Aber es zeigt sich bereits, dass Dänemark nicht allein ist: Deportationen nach Syrien sind auch für Deutschland kein Tabu mehr.