Rücksichtslos und verantwortungslos: Am Ende einer von den Medien streng überwachten Aufregungsrunde sah sich Altbundeskanzler Gerhard Schröder gezwungen, den Grünen-Frontmann Robert Habeck in die Parade zu treiben. Waffen für die Ukraine seien ein „nicht hilfreicher“ Vorschlag, erklärt Schröder und diagnostiziert den Grünen-Co-Vorsitzenden mit mangelnder politischer Erfahrung. Nur eine Woche nach Habecks Besuch in der Ostukraine diskutierte ein beträchtlicher Teil der politischen Spitzenkräfte seine Forderungen.
Der Zusammenhang zwischen staatlichen Bedenken und wahlkampfbedingter Nervosität wird in den nächsten Wochen in der politischen Debatte in Deutschland untersucht. Jedenfalls steht Habecks Forderung in der Tradition von Marieluise Beck, die bereits 2015 gefordert hatte, dass zumindest Waffenlieferungen nach Kiew nicht ausgeschlossen werden sollten – Ablehnung kam schon damals von der Parteispitze und dann von der Bundesregierung. Es überrascht nicht, dass die Ukraine andere Verbündete gesucht und gefunden hat. Ein wichtiger Partner: die Türkei.
Am 25. Januar feierte die „strategische Partnerschaft“ der beiden Schwarzmeer-Nachbarn ihr zehnjähriges Bestehen. Verhandelt und abgeschlossen von dem kurz darauf aus der Ukraine vertriebenen Viktor Janukowitsch und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hat sich das Bündnis seitdem als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen. Sie überlebte mehrere Machtwechsel in der Ukraine, den Beginn des Krieges im Osten, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland, die Spannungen zwischen Moskau und Ankara infolge des Krieges in Syrien und den gescheiterten Putschversuch in der Türkei 2016.
„Das hat die gesamte Sicherheitsarchitektur in der Schwarzmeerregion verändert“
Die Analystin Yevgeniya Gaber arbeitete von 2014 bis 2018 in der ukrainischen Botschaft in Ankara und erlebte die stetige Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern. „Der größte Meilenstein im Jahr 2014 war der Beginn der russischen Aggression und die Besetzung der Krim“, erinnert sie sich. „Das hat die gesamte Sicherheitsarchitektur in der Schwarzmeerregion verändert“, glaubt Gaber, der nun zu diesen Themen forscht und berät.
Während Berlin mit Sanktionen gegen Russland und ziviler Entwicklungshilfe für die Ukraine reagiert, lockert sich eine immer engere Zusammenarbeit zwischen Ankara und Kiew – mit erstaunlichen Ergebnissen. Das Handelsvolumen zwischen den beiden Ländern betrug im Jahr 2020 bereits über vier Milliarden Euro und soll sich in den nächsten fünf Jahren verdoppeln. Hinzu kommen rund 400 Millionen Euro Direktinvestitionen aus der Türkei. Rund 1,6 Millionen Ukrainer machen jedes Jahr Urlaub an türkischen Stränden.
Entscheidender ist jedoch derzeit die Zusammenarbeit im militärischen Bereich. Am 10. Mai, nur wenige Tage nachdem ein Einsatz russischer Truppen an der ukrainischen Grenze nicht mehr zu leugnen war, stattete Präsident Wolodymyr Selenskyj Ankara einen Staatsbesuch ab. Die Staatsoberhäupter haben warme Worte füreinander, es ist nur einer von mehreren Besuchen in den letzten Monaten. Auch wenn Erdoğan eine „friedliche und diplomatische“ Lösung der Krise fordert, trägt die türkische Rüstungsindustrie maßgeblich zur Verteidigungsbereitschaft Kiews bei.
Der Stolz der türkischen Rüstungsindustrie hat kürzlich sein Potenzial auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres bewiesen
Im Mittelpunkt stehen der Verkauf und die Lieferung von Bayraktar-TB2-Kampfdrohnen. Der Stolz der türkischen Rüstungsindustrie bewies kürzlich sein Potenzial auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres: Im Kaukasus hat die aserbaidschanische Armee mit Hilfe dieser Drohnen und türkischer Berater innerhalb kurzer Zeit die armenische Verteidigung ausgeschaltet. Der Drohnen-Deal wird die ukrainische Armee mit ähnlichen Fähigkeiten ausstatten – und auch der Türkei einen entscheidenden Vorteil verschaffen.
Nachdem westliche Firmen infolge des von Ankara unterstützten Krieges in Berg-Karabach die Lieferung von Motorenteilen eingestellt haben, werden diese nun in der Ukraine gefertigt. Auch der Antrieb für die große Schwester des TB2 – Akıncı, die sich derzeit in der Entwicklung befindet, könnte von Kiew geliefert werden. „Beide Länder wollen weg von einfachen Ein- und Verkäufen und gemeinsam Produkte für Drittländer herstellen“, glaubt Analyst Gaber. Konkret könnte dies bedeuten, dass die Kampfdrohnen künftig in der Ukraine hergestellt und von dort exportiert werden könnten.
Für einen hochrangigen österreichischen Militärexperten könnte der Kauf des TB2 durch die Ukraine „deren Ehrgeiz unterstreichen, das eigene Staatsgebiet wiederherzustellen“. Der Drohnenexperte und Oberst des Österreichischen Bundesheers meint: „Die Rüstungskooperation zwischen der Ukraine und der Türkei kann als Signal für eine mögliche Eskalation eines derzeit eingefrorenen Konflikts gewertet werden.“
Eine Lesart, die die Protagonisten in Ankara und Kiew bestreiten: Es geht immer und ausschließlich um Verteidigung. Doch nicht nur die Debatte um Robert Habecks Vorschlag machte deutlich, wie schwierig es ist, Waffensysteme eindeutig als defensiv oder offensiv einzuordnen. Moskau verhängte nach dem jüngsten türkisch-ukrainischen Gipfel ein bis Juni laufendes Flugverbot für die Türkei, begründet mit Sorge um die Pandemie – ein Warnschuss für die Regierung in Ankara und ein weiterer Schlag für den überaus wichtigen Tourismus.
Ende des Jahres wird die ukrainische Marine an einem Manöver der Türkei im Mittelmeer teilnehmen.
Der ukrainische Analyst glaubt daher, dass die Ukraine ihre Beziehungen zur Türkei von den türkischen Beziehungen zu Russland entkoppeln muss: „Die Türken sind äußerst pragmatisch, sie arbeiten mit Partnern zusammen, mit denen sie in Bereichen kooperieren können, die für beide Seiten von Interesse sind“, ein heikler Balanceakt für Ankara und eine weitere Belastung für das ohnehin komplexe Verhältnis zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem türkischen Staatsoberhaupt. Eine wachsende Liste von Konflikten, in denen die Regulierungsideen der beiden Länder aufeinanderprallen, vom Kaukasus über Syrien bis Libyen.
Die Vertiefung der türkisch-ukrainischen Zusammenarbeit könnte diese Liste mittelfristig um einen weiteren Punkt erweitern: das Schwarze Meer. Für die beiden größten Nachbarn ist das Meer von besonderer strategischer Bedeutung: Russland baut hier Pipelines und sichert den Zugang zum Mittelmeer, während die Türkei wiederum den gesamten Schiffsverkehr im Bosporus kontrolliert. Die jüngsten seegestützten Landungsmanöver auf der Krim und die damit verbundene Verlegung von Schiffen in das Asowsche Meer haben gezeigt, wie wichtig das Projekt für den Kreml ist.
Moskau wird sehr lustlos beobachten, wie sich auch in diesem Bereich eine vertiefte türkisch-ukrainische Zusammenarbeit entwickelt. Bereits im vergangenen Dezember wurde vereinbart, dass die ukrainische Marine künftig türkische Korvetten einsetzen darf – wie viele Schiffe der MILGEM-Klasse ausgeliefert werden, ist noch unbekannt. Aber auch hier könnte ein Teil der Produktion in die Ukraine verlagert werden.
Ende des Jahres wird die ukrainische Marine an einem Manöver der Türkei im Mittelmeer teilnehmen. Bereits im April gab das Verteidigungsministerium bekannt, erstmals an einem Planungstreffen für die Übung „Dogu Akdeniz“ teilgenommen zu haben. Eine jährliche Übung, zu der die Türkei befreundete Staaten einlädt. Neben den eigenen Schiffen wird Kiew dann voraussichtlich auch Offiziere entsenden, die von ihren türkischen Amtskollegen auf den neuen Kriegsschiffen ausgebildet werden.
Zusammengenommen ergibt sich das Bild einer immer mächtiger werdenden Armee, die mit den desolaten Truppen, die 2014 für die Landesverteidigung zuständig waren, nicht mehr viel zu tun hat. Diskussionen in einschlägigen Kreisen bestätigen diesen Eindruck bereits. Veteran Vitaliy Ovcharenko zum Beispiel organisiert seit Jahren Spendenaufrufe zur Beschaffung von Ausrüstung für ukrainische Soldaten. „Anfangs gab es die Armee im Grunde noch nicht“, erinnert er sich. Manchmal hätten Owcharenko und seine Unterstützer die gesamte Ausrüstung beschaffen müssen. „Wir konzentrieren uns heute auf die fehlenden zehn Prozent, darunter besonders teure Geräte, die in der Ukraine nicht immer verfügbar sind – etwa Nachtsichtgeräte.“
Auch die USA, lange zögerlich, haben jetzt Waffen geschickt. Bis 2018 hat Washington den Verkauf von mehr als 300 Panzerabwehrraketen für das hochmobile Javelin-System FGM-148 genehmigt. Mit Blick auf die Debatte um Habecks Forderungen nach Waffenlieferungen ätzte Alexander Clarkson vom Londoner King’s College kürzlich auf Twitter, dass „viele deutsche Politiker und Kommentatoren nicht verstanden haben, dass das ukrainische Militär kampferprobter und besser ausgerüstet ist als die deutsche Bundeswehr“.
Wer heutzutage in die Ukraine reist, wird immer noch von großen Sorgen hören. Die Angst vor einer weiteren Eskalation durch Russland ist groß und der Wunsch nach militärischer Unterstützung für Habeck echt. In Gesprächen vor Ort gibt es jedoch immer eine ganz andere Möglichkeit, der Ukraine zur Seite zu stehen: durch ein Moratorium für Nord Stream 2. Nur wenn die Ukraine weiterhin Transitland für russisches Erdgas nach Europa ist, so die Argumentation, sollte man weiteren Aggressionen voraus sein.