Von Kenan Bozkurt, unabhängiger türkischer Journalist und Politologe. Kenan lebt in Istanbul und Brüssel, neben seiner journalistischen Tätigkeit für internationale Medien berät er auch EU-Institutionen zu türkeibezogenen Themen.
Türkische rechtsextreme Parteien sind im Sicherheitsapparat überproportional vertreten und versuchen mit Provokationen in wichtigen Fragen die Regierung von Präsident Erdogan zu beeinflussen. Derzeit sind zwei der vier rechtsextremen Parteien des Landes besonders erfolgreich: die 1969 gegründete Nationalistische Bewegungspartei (MHP), die Dachorganisation des chauvinistischen türkischen Nationalismus und die erst kürzlich im August 2021 gegründete Siegespartei (Zafer Partisi).
Mit 48 Mandaten verhilft die MHP Erdogans AKP zu einer Mehrheit im Parlament, trägt aber keine exekutive Verantwortung. Von Zeit zu Zeit erhöht ihr Vorsitzender Devlet Bahceli wie ein Oppositionsführer den Druck auf die Regierung. Erst im vergangenen Monat präsentierte er eine Karte der Ägäis, auf der alle Inseln bis zu 100 Kilometer vor der türkischen Küste und sogar Kreta als türkisches Territorium eingezeichnet sind. Bahçelis Provokation hat ihren Zweck erfüllt: Erdogan eskalierte seine Rhetorik gegen Griechenland, seitdem steigen die Spannungen in der Ägäis.
Mit seiner jüngsten Entscheidung schickte Erdogan ein Bohrschiff ins östliche Mittelmeer. Damit ist ein weiterer Streit mit dem Nachbarland Griechenland vorprogrammiert. Frühere Fahrten türkischer Bohr- oder Forschungsschiffe zum Erkunden von Bodenschätzen im östlichen Mittelmeer hatten die Türkei und Griechenland erst 2020 an den Rand eines militärischen Konflikts gebracht. Die Türkei ließ ihre Schiffe von Fregatten eskortieren, Griechenland entsandte daraufhin auch Kriegsschiffe.
Das Bohrschiff Abdülhamid Han hat diese Woche die anatolische Hafenstadt Mersin verlassen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte bei der Zeremonie, nach der das Schiff seine Reise antrat, dass es zunächst in die Region Iskenderun fahren und dann „weitersuchen werde, bis es etwas findet“. Für die „Forschungs- und Bohrarbeiten“, so Erdoğan, „muss man von niemandem eine Erlaubnis oder Genehmigung einholen“.
Im östlichen Mittelmeer werden unter dem Meeresboden große Erdgasvorkommen sowie weitere wertvolle Rohstoffe vermutet. Auch der Verlauf der Seegrenzen zwischen Griechenland und der Türkei sorgt seit Jahrzehnten für Streit. Denn auch der Besitz von Gas, Öl oder anderen Bodenschätzen ist an bestehende Grenzen gebunden. Die Türkei sieht sich in ihrem Recht auf mögliche Ausbeutung eingeschränkt, weil Griechenland seine Grenzen um seine Inseln zu Lasten der Türkei abgesteckt hat, wobei selbst winzige unbewohnte Felsen als Basis dienen.
Die Seegrenzen des EU-Staates Griechenland sind jedoch international anerkannt. Anders als Ankara hat Athen auch das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) von 1982 unterzeichnet. Es regelt die Nutzung der Meere. Die Entnahmerechte für Rohstoffe und die Fischereirechte werden anhand der Seegrenzen festgelegt. Es geht um die Reichweite des Festlandsockels eines Landes und „ausschließliche Wirtschaftszonen“, die ein Staat beanspruchen kann. Die Türkei ist dem Abkommen nie beigetreten und fühlt sich nicht daran gebunden.
Parlaments- und Präsidentschaftswahlen nähern sich in einem politischen System, in dem Erdogans AKP-Partei sich nicht mehr sicher sein kann, die Wahlen zu gewinnen. Mit dem Druck der rechten Bewegung und den Reaktionen des Präsidenten versucht dieser nun, wieder Fahrt aufzunehmen.
Und auch die Extremisten sehen ihre Chance, indem sie sich nicht nur nationalistischer Rhetorik bedienen, sondern Populismus mit islamistischen Phrasen kombinieren. Die BBP zum Beispiel wurde 1993 von ehemaligen MHP-Parteifunktionären gegründet und fügte der pan-türkischen Ideologie der MHP eine islamistische hinzu. Mitglieder der BBP standen hinter der Ermordung des armenischen Intellektuellen Hrant Dink im Jahr 2007, ein Ableger der BBP in Westeuropa ist die in Deutschland ansässige „Association of Turkish Cultural Associations in Europe“ (ATB).
Doch der politische Radikalismus der MHP wurde nicht von allen Parteimitgliedern unterstützt: Im Oktober 2017 gab es eine Abspaltung, die die MHP schwächte. Meral Aksener und ihre Anhänger verließen die MHP und gründeten die „Gute Partei“ (Iyi Parti), weil sie die Duldung der AKP-Regierung durch den MHP-Vorsitzenden Bahceli und seine rechtsextreme Politik nicht länger unterstützen wollten. Seitdem ist sie im Lager der Opposition fest verankert. Für den rechten Flügel der Partei, der 37 Abgeordnete im Parlament von Ankara stellt, gehört der nationalistische Wolfsgruß der MHP noch immer zum Ritual.
Während sich die Iyi Parti konstruktiv an der türkischen Politik beteiligt, lebt die Zafer Partisi, die jüngste Spaltung, von reiner destruktiver Provokation. Ein Beispiel ist das Video „Silent Invasion“ (Sessiz istila), das von seinem Vorsitzenden Ümit Özdag in Auftrag gegeben wurde. Das 15-minütige Video wurde im Frühjahr auf YouTube hochgeladen und seitdem millionenfach angesehen, nicht nur in der Türkei, sondern auch von türkischen Migranten in Westeuropa. Das fremdenfeindliche Filmmaterial zeigt, wie die Araber in zwei Jahrzehnten die Türkei übernehmen und die Türken unterjochen werden. In einem dramatischen Ton ruft das Video zum Handeln auf, bevor es zu spät sei.
Özdag gehörte auch zu denen, die die MHP verließen und die Iyi Parti gründeten. Eine seiner zentralen Forderungen der letzten Zeit: alle Flüchtlinge sofort aus der Türkei auszuweisen. Er beschwört eine „Völkerwanderung“ herauf und schürt Ängste vor angeblicher Überfremdung der Türkei.
Damit trifft er einen Nerv bei der türkischen Bevölkerung, die durch eine massive Wirtschaftskrise leidet. Özdag behauptet, dass Türken wegen Flüchtlingen, hauptsächlich aus Syrien, keine Wohnung oder Arbeit finden.
Als er vor knapp einem Jahr die Zafer Partisi gründete, war seine erste Amtshandlung der Besuch des Grabes von Alparslan Türkes. Damit behauptete er, der Erbe des Vaters der Türkischen Grauen Wölfe zu sein und wie dieser für eine ethnisch homogene Türkei zu kämpfen. Und er startete seine Kampagne gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung Erdogan.
In Umfragen liegt die junge rechtspopulistische Partei bereits bei zwei Prozent. Bei Wahlen würde sie dem Bündnis aus AKP und MHP, vermutlich aber auch dem losen Bündnis der Opposition, dem die Iyi Parti angehört, Stimmen entziehen. Seine Popularität profitiert davon, dass er sich nicht scheut, Provokationen zu inszenieren.
Als Innenminister Soylu in den sozialen Medien ein Video von Özdag kritisierte, indem er von einer „stillen Invasion“ syrischer Migranten in die Türkei sprach, beschuldigte Soylu Özdag, „niedriger als ein Tier“ zu sein, woraufhin ihn der Beleidigte zum Duell herausforderte. wenn auch einem ohne Waffen, wie er betonte. Doch als er vor dem Ministerium auftauchte, ignorierten ihn unbeeindruckte Sicherheitsleute, es gab kein Duell. Özdag hatte aber wieder für Schlagzeilen gesorgt und bei seinen Anhängern gepunktet. Und er zwingt Erdogan zu einer Kurskorrektur in der Flüchtlingspolitik.
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