Anfang diesen Monats brannte in Schwedens Hauptstadt wieder einmal ein Koran, am Abend in der Türkei eine schwedische Fahne. In der Konsequenz könnte es bedeuten, dass das skandinavische Land, entgegen seinem Nachbarn Finnland, nicht mehr viel Hoffnungen für die Mitgliedschaft in der NATO haben dürfte. Es sei denn, Erdogan lässt sich seine Zustimmung mit harter Währung bezahlen.
Alles begann mit der Einzeltat eines rechtsextremistischen Einzeltäters im Stockholmer Botschaftsviertel: Der Gründer der Kleinstpartei Stram Kurs, der bereits in der Vergangenheit auf Provokationstournee durch Schweden ging und dabei im migrantisch geprägten Wohnvierteln Koran-Bücher verbrannte,zündete öffentlich erneut, und dies nicht nur im wortwörtlichen Sinn. Es kamen rund 50 Polizisten und 200 Journalisten, ansonsten nur ein paar Spaziergänger. Eine schwarz gewandete Frau trug ein weißes Holzkreuz. Eine ältere Dame mit Pudelmütze schwenkte eine Schwedenfahne. Der Extremist hielt eine lange Rede, in der er sich ausführlich über migrantische Verbrecher ereiferte. Erdogan solle doch bitte nicht nur all die Türken und Kurden zurücknehmen, sondern auch Somalier, Iraker, Afghanen, schließlich seien das alles Kriminelle.
Bezahlt wurde die Aktion von einem Mann, der den rechtspopulistischen Schwedendemokraten nahesteht. Wer in Schweden eine Demonstration veranstalten möchte, muss dafür eine Anmeldegebühr zahlen. Die Zeitung Syre recherchierte, dass die 320 Kronen für die Koranverbrennung nicht von Paludan, sondern von Chang Frick, dem Betreiber eines rechtspopulistischen Onlineportals, überwiesen worden sind. Frick ist auch Moderator beim Riks-Kanal der Schwedendemokraten.
Ministerpräsident Ulf Kristersson, dessen wichtigste außenpolitische Aufgabe der Nato-Beitritt Schwedens ist, versuchte nach der Koranverbrennung die Wogen zu glätten. „Meinungsfreiheit ist ein grundlegender Bestandteil der Demokratie“, schrieb er. „Aber was legal ist, ist nicht unbedingt angemessen. Das Verbrennen von Büchern, die vielen heilig sind, ist eine zutiefst respektlose Handlung. Ich möchte allen Muslimen mein Mitgefühl aussprechen, die von dem, was heute in Stockholm passiert ist, beleidigt worden sind.“
Die türkische Regierung zeigte sich davon nicht wirklich beeindruckt. Sie hatte den schwedischen Botschafter einberufen und aufs Schärfste dagegen protestiert, dass Paludan bei seiner „provokativen Aktion“ auch noch von schwedischer Polizei geschützt werde. Ein Sprecher des türkischen Präsidenten sagte, die Demonstration „trotz unserer Warnungen“ zu genehmigen, könne nur als „Aufruf zu Hassverbrechen und Islamophobie“ verstanden werden.
Erdogans Reaktion auf Stockholm klang hart: Wenn die schwedische Regierung keinen Respekt vor den religiösen Überzeugungen der Türkei und der Muslime zeige, „wird sie leider keine Unterstützung von uns in der Nato erhalten. Wenn sie Mitglieder von Terrororganisationen und Feinde des Islam so sehr lieben, raten wir ihnen, die Verteidigung ihres Landes ihnen zu überlassen.“
Die türkische Opposition reagierte keineswegs milder, im Gegenteil. Es wirkt, als wolle sie den Präsidenten an rhetorischer Schärfe im Wahlkampf noch übertreffen. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu von der säkularen CHP twitterte: „Ich verurteile diesen Faschismus, den Gipfel der Hasskriminalität.“ Meral Aksener, Chefin der rechten IYI-Partei und mit der CHP im Wahlbündnis, nutzte in der an Schimpfwörtern reichen türkischen Sprache extrastarke Ausdrücke für „unmoralisch und unehrenhaft“.
Die regierungsfreundlichen Hürriyet gab dagegen zu Bedenken: „Nehmen wir den Verrückten, der in Schweden den Koran verbrannt hat, zu ernst? Wie wäre es, wenn wir diesen Kerl ignorieren? Wenn wir ihm zuflüstern: Fahr zur Hölle?“ Schon am Montag hatte das kritische Blatt Karar gefragt, welche Beziehungen Paludan „zum russischen Geheimdienst“ habe. „Provokationen gegen die Türkei sind Teil eines umfassenden Plans“, kommentierte Karar.
Finnland zeigte sich offen dafür, der NATO auch ohne Schweden beizutreten. Man könnte dazu gezwungen sein, auch wenn ein gemeinsamer Beitritt erste Option bleibe. Der finnische Außenminister Pekka Haavisto sagte im finnischen Rundfunk einen aufsehenerregenden Satz: Unter Umständen könnte Finnland gezwungen sein, einen Nato-Beitritt ohne seinen langjährigen Verbündeten Schweden zu erwägen. Ein Tabu war gebrochen. Und auch wenn Haavisto danach mehrfach betonte, natürlich habe man den „starken Wunsch“, gemeinsam beizutreten, ist das Signal klar. Finnland will um jeden Preis in die Nato. Und im Zweifel eben auch ohne Schweden.
Finnland könne der Sicherheit im Norden dienen und Schweden vielleicht besser helfen, wenn es der Militärallianz allein beitrete, als wenn beide Länder außen vor stünden, spekulieren in diesen Tagen gleich mehrere Experten in finnischen Medien. Es klingt wie eine vorausgeschickte Rechtfertigung für den Fall, dass Finnland das unsichtbare Nato-Band mit Schweden kappt.
Bislang schlottern den Schweden deshalb noch nicht die Knie – was auch mit der türkischen Präsidenten- und Parlamentswahl in diesem Mai zusammenhängt. Die könnte der Grund dafür sein, dass Erdogan den Widerstand gegen den schwedischen Nato-Beitritt so hartnäckig aufrechterhält. Indem er sich außenpolitisch als starker Mann präsentiert, vermuten Beobachter, versucht sich der türkische Präsident Wählerstimmen zu sichern, die er dringend nötig hat.
Während in der Türkei schwedische Aktionen von Extremisten sowie aufgehängte Erdogan-Puppen durch kurdische Menschenrechtler vorgeschoben werden, um Schweden nicht in die NATO aufzunehmen, wird in Ungarn eine andere Taktik gefahren: Dort wird argumentiert, dass der parlamentarische Tagesplan der vergangenen Monate zu voll war für die Ratifizierung durch das ungarische Parlament. Dies berichteten zumindest die Abgeordneten von Regierungschef Orbans Partei Fidesz. Man sei ausgelastet, der entsprechende Gesetzentwurf sei vorgelegt worden, man müsse einfach abwarten. Ä Politiker, die der Regierung in Budapest nahestehen, ringen auf Nachfrage entweder mit den Händen oder verweisen – beinahe zynisch – darauf, dass sie die Gewaltenteilung respektieren müssten: Das Parlament sei eine von der Regierung unabhängige Institution, man könne nichts anderes tun, als abzuwarten, wann das Thema auf der Tagesordnung auftaucht.
Die Regierung von Premier Viktor Orbán verfügt seit 2010 über eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament und hat bereits gezeigt, wie schnell sie Gesetzesvorhaben durch das Parlament peitschen kann, wenn es dem Chef nutzt, es wurden sogar Entwürfe über Nacht zu Gesetzen gemacht.
Für die Türkei und Schweden wächst dabei täglich der internationale Druck: Hochrangige Politiker aus Schweden und Finnland, auch die Außenminister diverser EU- und Nato-Länder beschweren sich regelmäßig über das Verhalten Budapests und Ankaras und fordern die Regierungen auf, endlich zu handeln. Orban undErdogan scheint das jedoch nicht besonders zu interessieren.
Die populärste These im Falle Ungarns ist, dass es um Geld geht – was die Regierung natürlich bestreitet. Orban will erreichen, dass die Europäische Kommission im Rahmen des Rechtsstaatsmechanismus so wenig der für Ungarn bestimmten EU-Gelder wie möglich einfrieren lässt, so die Lesart.
Eine andere These lautet wie folgt: Angesichts des wahrscheinlichen Szenarios, dass der ungleich wichtigere Akteur, die Türkei, noch monatelang mit Schweden feilschen wird, könnte Orbán versucht sein, sein Land auf der internationalen Bühne wieder stärker ins Rampenlicht zu rücken. In Ungarn wird auch darüber debattiert, ob es sich am Ende um ein Geschenk an den russischen Präsidenten Wladimir Putin handeln könnte, dem die Uneinigkeit in EU und Nato für seine Propaganda zupass kommt.
Nach überstandener Wahl in der Türkei könnte die Situation für die Schweden schon ganz anders aussehen. Falls Erdogan an der Macht bleibt, braucht er diese Frage nicht mehr, um die Unterstützung der Wähler zu bekommen. Verliere er, könne es sein, dass die nächste Regierung eine viel weichere Haltung habe. Der Druck auf Erdogan ist außerdem sehr groß, und er bezahlt einen hohen Preis für seine Bremspolitik. Finnlands Plan sei es deshalb, die Wahl im Mai abzuwarten und das türkische Spiel nicht mitzuspielen. Egal, wie sie ausgeht: Nach der Wahl, davon viele Experten überzeugt, wird die Türkei die schwedische Bewerbung absegnen. Wäre das tatsächlich der Fall, könnten Schweden und Finnland zum nächsten regulären NATO-Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius im Juli Mitglieder des Bündnisses sein. Bleibt nur abzuwarten, ob alle Seiten es schaffen, bis dahin die Füße stillzuhalten.
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