Anfang des Monats versuchten die beiden Staaten, in einer Zusammenkunft der Regierungen die bilateralen Beziehungen auf eine neue Ebene zu stellen. In einem Gipfeltreffen zwischen Spanien und Marokko statt, wo es unter anderem um den Umgang mit den Migrationsströmen nach Europa ging. Das Gipfeltreffen fand vor dem Hintergrund deutlicher Spannungen zwischen Marokko und der EU statt, nachdem das Europäische Parlament das Maghreb-Land kürzlich in einer Resolution dazu ermahnt hatte, die Meinungsfreiheit zu respektieren. Außerdem besteht der Verdacht, dass Marokko in den Korruptionsskandal rund um das EU-Parlament verwickelt ist, bekannt unter Katargate.
Sánchez, dessen sozialdemokratische Parteikollegen im EU-Parlament gegen die Resolution stimmten, möchte die bilateralen Spannungen abbauen und die Beziehungen zum südlichen Nachbarn stärken. Dies hatte hat vor allem strategische Gründe: Eines der „heißen Eisen“ zwischen Madrid und Rabat ist die Frage der Migrationsströme an der spanisch-marokkanischen Grenze. Gleichzeitig wurde aber auch in Regierungskreisen in Spanien deutlich, dass zumindest Teile der Regierungskoalition den Kurs von Sánchez nicht unterstützen wollen. Seine Stellvertreterin Yolanda Díaz und alle anderen Minister des Koalitionspartners Podemos lehnten die Delegationsreise ab. Ähnlich wie der rechten Opposition ging ihr das Entgegenkommen des Regierungschefs gegenüber Rabat zu weit. Sánchez hatte für die Reparatur der mediterranen Beziehungen einen hohen Preis bezahlt. Um Rabat nicht vor dem Gipfeltreffen zu verstimmen, lehnten vor zwei Wochen die Abgeordneten seiner sozialistischen PSOE-Partei im Europaparlament die jüngste Resolution ab, die Marokko wegen der Verschlechterung der Pressefreiheit und Korruptionsvorwürfen so deutlich wie selten zuvor kritisierte. Die Beziehungen zu Marokko müssten auf gegenseitigem Respekt beruhen, dafür muss man auch mal Kröten schlucken, hieß es dazu aus der sozialistischen Partei.
„Der Gipfel wird ein Thermometer sein, ein Test dafür, wie weit sich die Beziehungen normalisiert haben“, sagte ein Regierungsmitglied in Madrid. Wenn beide Seiten nicht zusammenarbeiten, habe das gefährliche Auswirkungen in sehr sensiblen Bereichen, wie dem Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Die Folgen, etwa anschwellende Migrationsströme, bekämen Spanien und die Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko sowie die Kanarischen Inseln zu spüren. Im April 2022 kam es zu einer Annäherung durch den marokkanischen König, als er Sánchez zum Fastenbrechen nach Rabat einlud und eine „neue Etappe“ ankündigte. Als Beweis dafür, dass die Partnerschaft wieder funktioniert, weist die spanische Regierung gern auf die zurückgehende Zahl der irregulären Migranten hin, die Rabat immer wieder als politisches Druckmittel eingesetzt hatte. Auf dem Höhepunkt der bilateralen Krise, in der es um den Westsahara-Konflikt ging, ließen es die marokkanischen Behörden zu, dass am 17. Mai 2021 mehr als 8.000 Marokkaner in die spanische Exklave Ceuta stürmten.
Seit der Versöhnung vor einem Jahr nimmt die Zahl der irregulären Migranten, die aus Marokko nach Spanien kommen, deutlich ab. Im Vergleich zu 2021 waren es 31 Prozent weniger Migranten auf den Kanaren, 21 Prozent weniger im westlichen Mittelmeer. Fachleute weisen jedoch darauf hin, dass sich die Migrationsströme in letzter Zeit auf die Route nach Bulgarien und Serbien verlagert haben. Die größte Gruppe unter den irregulären Migranten in Spanien stellen aber immer noch die Marokkaner, und Spanien wünscht, dass sie zügiger abgeschoben werden. Gegen den mutmaßlichen dschihadistischen Attentäter in Algeciras lag eine entsprechende Anordnung vor. Es geht dabei nicht nur um Spanien. Zwischen 2021 und 2027 erhält Marokko 500 Millionen Euro von der EU, um die irreguläre Einwanderung einzudämmen.
Marokko öffnete auch die Grenzen zu Spanien wieder. Der Fähr- und Flugverkehr normalisierte sich wieder. Das hat jedoch mehr mit dem Ende der Pandemie zu tun, zuvor war Marokko immer wieder monatelang abgeriegelt. An den Grenzübergängen zu den spanischen Nordafrika-Exklaven tat sich aber bislang wenig. Die Grenze zu Melilla hatte Marokko 2018 geschlossen, in Ceuta sollte längst ein neues Grenzregime für den Warenverkehr eingeführt sein. Für Spanien ist das wichtig, denn es würde auch die marokkanische Anerkennung bedeuten, dass beide Städte zu Spanien gehören.
In Madrid fragt man sich nun, ob sich die Annäherung an Marokko auszahlt. Im vergangenen Frühjahr hatte Sánchez nach mehr als 40 Jahren praktisch die spanische Neutralität im Streit um die Westsahara aufgegeben. Er nannte in einem Brief den marokkanischen Autonomieplan von 2007 die „ernsthafteste, realistischste und glaubwürdigste Grundlage für eine Lösung des Konflikts“. Als autonome Region bliebe dann die frühere spanische Kolonie Teil Marokkos. Das nordafrikanische Land drängt die EU seit lange dazu, dem Beispiel des damaligen amerikanischen Präsidenten Donald Trump zu folgen, der die Westsahara als Teil Marokkos anerkannte.
Es ist das zwölfte bilaterale Gipfeltreffen seit 1993, als Spanien und Marokko den Freundschaftsvertrag umsetzten, der ein jährliches bilaterales Treffen vorsieht. Zuletzt hatte ein solcher Gipfel 2015 stattgefunden. Zwei für 2020 und 2021 geplante hochrangige Treffen wurden von Marokko abgesagt, das, ermutigt durch die Unterstützung der USA, eine aggressivere Politik im Westsahara-Konflikt verfolgte. Acht Jahre dauerte also die lange Pause. In Madrid war schon seit Tagen vor der Reise von einem „historischen“ Treffen die Rede. Gut zwanzig bilaterale Abkommen sollten am Ende der Regierungskonsultationen unterzeichnet werden. In Rabat will die spanische Regierung mit einem neuen Mechanismus die Grundlagen dafür legen, dass die Partnerschaft am westlichen Mittelmeer nicht mehr mit fast verlässlicher Regelmäßigkeit gefährlich abkühlt.
Wirtschaftlich kamen sich beide Seiten ebenfalls näher. Spanien ist für Marokko der wichtigste Handelspartner. Die spanischen Exporte stiegen um 12 Prozent auf eine Rekordhöhe von mehr als zehn Milliarden Euro. Doch der Zuwachs ging mit einem herben Rückschlag in Algerien einher, dem bisher wichtigsten Erdgaslieferanten Spaniens. Algerien ist die Schutzmacht der für die unabhängige Westsahara kämpfenden Befreiungsfront Polisario und war empört über die Annäherung des spanischen Ministerpräsidenten an den regionalen Rivalen Marokko; beide Maghreb-Staaten führen seit Langem einen kalten Krieg gegeneinander.
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