Der Umgang mit Flüchtenden war eins der wichtigsten Themen beim letzten Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs. Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer forderte, die ganze EU müsse nun „die Asylbremse anziehen“. Der Christdemokrat hatte zuvor verlangt, dass die EU-Kommission Bulgarien mit zwei Milliarden Euro dabei unterstützt, einen Zaun an der Grenze zur Türkei zu bauen. Doch bisher lehnt Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ab, Brüsseler Geld für Zäune und Mauern einzusetzen.
Laut europäischer Statistikbehörde wurde im Jahr 2021 von 340.000 ausreisepflichtigen illegalen Migranten nur jeder fünfte auch tatsächlich abgeschoben. Während die irregulären Einreisen in die EU im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr deutlich angestiegen sind, bleiben die Zahlen der Abschiebungen weit hinter den Vorhaben zurück. So wurden im Jahr 2022 weniger als jeder Vierte ausreisepflichtige Asylbewerber in sein Heimatland abgeschoben. Das ist ein Thema, um das man in der EU schon lange um eine Lösung ringt. „Wir haben eine sehr niedrige Rückkehrrate“, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson am Rande eines Treffens der EU-Innenminister in Stockholm. In Brüssel heißt es hinter vorgehaltener Hand, die Zahl der Abschiebungen sei in Wirklichkeit noch deutlich niedriger als offiziell bekannt. Dabei liegt das Ziel der EU-Kommission in puncto Rückführungen seit Jahren bei 70 Prozent.
Der Großteil der nach Deutschland kommenden Asylsuchenden beispielsweise reist unerkannt über die Außengrenzen der Europäischen Union ein. Dies zeigen Daten aus dem deutschen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Unter allen 151.277 Erstantragstellern ab 14 Jahren, die im Jahr 2022 in Deutschland ankamen, „hatten etwa zwei Drittel (circa 101.000) keinen Eurodac-Treffer“. Eurodac ist eine Datenbank der EU zum Abgleich von Fingerabdrücken von Asylbewerbern, durch die Mehrfachanträge in verschiedenen Ländern verhindert werden sollen. Nach dem Dublin-Verfahren müssen Menschen ihren Asylantrag in dem Land stellen, in dem sie erstmals europäischen Boden betreten haben. Sind die Asylbewerber nicht im Eurodac-Registrierungssystem vermerkt, können sie nicht mehr in ein anderes europäisches Land zurücküberstellt werden.
Eigentlich müsste die große Mehrzahl der ankommenden Asylsuchenden eine Eurodac-Registrierung durch die Staaten an der EU-Außengrenze aufweisen. Denn nur eine Minderheit der Antragsteller in Deutschland reist direkt und ohne vorherigen Aufenthalt in anderen europäischen Staaten in die Bundesrepublik. Alle EU-Staaten sind seit spätestens 2013 verpflichtet, jeden irregulär einreisenden Migranten über 14 Jahren zu registrieren und in Eurodac einzutragen. Denn wenn ein in Deutschland ankommender Asylbewerber nicht irgendwo anders in der EU registriert ist, wird Deutschland automatisch für ihn zuständig. Das bedeutet in der Regel die dauerhafte Ansiedlung hierzulande.
Im Falle einer Anerkennung als schutzberechtigt gewährt Deutschland üblicherweise drei bis fünf Jahre nach Einreise Rechtsansprüche auf einen dauerhaften Aufenthalt, und auch die meisten abgelehnten Asylbewerber erhalten über Duldungen recht bald einen Aufenthaltstitel. Sechs bis acht Jahre nach Einreise ist dann die Einbürgerung möglich. Die Regierungskoalition will die deutsche Staatsangehörigkeit künftig nach drei bis fünf Jahren ermöglichen.
Die deutsche Innenministerin Nancy Faeser (SPD) ist dagegen, mehr Druck bei Abschiebungen zu machen und die Visavergabe für rücknahmeunwillige Länder zu erschweren. „Ich bin damit zurückhaltend, ich glaube, dass der Weg über Migrationsabkommen der bessere ist“, sagte sie in Stockholm. Sie will mehr auf „Anreize“ als auf Druck setzen. Die neuen geplanten Maßnahmen werden wohl nicht zu einer Trendwende bei Abschiebungen führen. Das liegt vor allem daran, dass sie die Abschiebepraxis der einzelnen EU-Länder außen vor lassen. Während Staaten mit hohen Abschiebequoten wie Dänemark, Bulgarien und Irland viel Geld und Personal in Rückführungen investieren, geben Staaten mit wenig Rückführungen wie Tschechien, Frankreich und Italien nur relativ wenig dafür aus.
Bisher wurden zahlreiche Maßnahmen und Richtlinien verabschiedet, sie änderten aber wenig an der Misere. Schwedens Regierung, die noch bis Juni dieses Jahres den Vorsitz über die 27 EU-Länder führt, hat nun vorgeschlagen, die Abschiebung illegaler Migranten in Transit- oder Herkunftsländer zu „europäisieren“, d.h. mehr Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei Rückführungen, mehr europäische Gelder bei der Reintegration von Geflüchteten in ihrer Heimat und mehr Druck auf Herkunftsländer.
Nach einem Vorschlag von Innenkommissarin Johansson soll es in jedem EU-Land künftig Berater geben, die illegale Migranten zu einer freiwilligen Rückkehr animieren. Gleichzeitig sollen freiwillige Rückkehrer laut Johansson in ihrem Heimatland professionell und finanziell bei der Wiedereingliederung unterstützt werden. Um den Ablauf des Abschiebeprozessessoll beschleunigen zu können, soll mehr Digitalisierung helfen. Zudem soll die EU-Grenzschutzagentur Frontex bei der Beratung und Durchführung von „Rückführungsoperationen“ stärker tätig werden.
Schweden will mehr Druck auf die Herkunftsländer der illegalen Migranten ausüben. Konkret geht es darum, Bürgern afrikanischer Länder, die sich im Rahmen von Abkommen weigern, ihre abgelehnten schutzsuchenden Staatsbürger zurückzunehmen, noch schwerer als bisher zu machen, ein Visum für die EU zu erhalten. Seit 2020 kann die EU Visa als Druckmittel gegen Herkunftsländer nutzen, bisher gibt es aber nur einen Fall, in dem das auch geschehen ist: im Fall des westafrikanischen Kleinstaates Gambia.
Aber nicht nur die aktuelle Präsidentschaft der EU mit einer Regierung, die von den rechtsextremen Schwedendemokraten gestützt wird, deutet einen strengeren Kurs an, Italien spielt eine ebenso wichtige Rolle. Es ist einerseits das Hauptankunftsland in der EU für Migration über das Mittelmeer – gleichzeitig regiert dort seit Oktober eine Rechtskoalition unter der Führung von Giorgia Meloni, die bereits im Wahlkampf ein hartes Vorgehen gegen Migration verkündet hatte.
So stand im Wahlprogramm, dass die illegale Migration durch stärkere Grenzkontrollen und eine sogenannte Schiffsblockade eingeschränkt werden sollte. Außerdem hatten sich Meloni und ihre Verbündeten vorgenommen, von der EU kontrollierte sogenannte Hotspots außerhalb der EU aufzubauen, um dort Asylgesuche zu überprüfen und Migrationsflüsse künftig besser zu steuern – inklusive effektiverer Abschiebungen.
Bei Regierungskonsultationen Roms in Tunesien und Ägypten ging es darum, bessere Beziehungen zu den dortigen Regierungen aufzubauen, um Abschiebungen zu erleichtern. Italien kann die Tunesier und Ägypter, deren Asylgesuche abgelehnt wurden, nur zurückführen, wenn ihre Heimatländer zustimmen. Gleichzeitig möchten die Italiener, dass die beiden nordafrikanischen Länder dafür sorgen, dass künftig weniger Migranten von ihren Küsten nach Italien aufbrechen. Als ein Zugeständnis hat Italien den beiden Länder größere Kontingente für legale Migration angeboten. Rom erlaubt jedes Jahr mit dem „decreto flussi“ einer festgelegten Zahl an Arbeitsmigranten die Einreise. Im vergangenen Jahr durften so 69.700 Menschen nach Italien einreisen, 27.000 davon lediglich als Saisonarbeiter. Ob die Verhandlungen mit Tunesien und Ägypten sich im Sinne der italienischen Regierung auswirken, muss sich noch zeigen. Bereits italienische Vorgängerregierungen haben mit Tunesien Abkommen für Abschiebungen im Gegenzug für Investitionen geschlossen. Große Erfolge zeigten die nicht. Zwar ist Tunesien das Land, in das Italien am meisten abschiebt, doch die absoluten Zahlen bleiben hinter dem EU-Durchschnitt zurück. Die Idee, insgesamt engere Verbindungen in die Herkunfts- und Abfahrtsländer zu knüpfen, wird nun allerdings von den anderen EU-Ländern als Strategie übernommen. Denn ein konstanter Austausch trägt dazu bei, dass diese Länder sich als Partner ernst genommen fühlen.
Ein Problem beim Migrationsgipfel in Brüssel war daher Italiens Umgang mit den Seenotrettungsschiffen von Nichtregierungsorganisationen. Für diese hat Melonis Regierung kürzlich einen Codex erlassen, der ihre Arbeit erschwert und darauf abzielt, dass die anderen EU-Länder, unter deren Flaggen die Schiffe fahren, mehr Verantwortung im Asylprozess der Migranten an Bord übernehmen – um im Gegenzug Italien als Erstankunftsland zu entlasten. Länder wie Deutschland oder Frankreich, die davon betroffen wären, wehren sich dagegen. Aus einem einfachen Grund: Während in Italien zwar die bürokratische Arbeit mit den vielen Ankünften von Flüchtlingen hat, reisen viele anschließend weiter. Frankreich und Deutschland nehmen daher jedes Jahr deutlich mehr Asylsuchende auf.
Der Blick in der EU auf illegale Migration hat sich in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Der politische Schwerpunkt der Debatte hat sich weit nach rechts verschoben, es geht um Abwehr, Ausweisung, Rückführung. Außer Deutschland gibt es kein großes EU-Land mehr, das Einwanderung als grundsätzlich positiv definiert. Das Thema Migration spaltet die EU in zwei Lager. Das eine besteht aus Staaten wie Italien, Griechenland, Ungarn und Bulgarien, in denen derzeit viele illegale Einwanderer und Flüchtlinge aus Afrika und Asien ankommen. Den EU-Regeln zufolge, an die sich aber niemand hält, müssten sich diese sogenannten primären Aufnahmestaaten, in denen die Migranten den Boden der EU betreten, um die Menschen kümmern – sie registrieren, unterbringen, ihre Asylanträge prüfen.
In der Praxis lassen sie die Zuwanderer jedoch vielfach weiterziehen in andere EU-Länder wie Österreich, Belgien oder die Niederlande. Diese sogenannten sekundären Aufnahmestaaten bilden ein anderes Lager in der Einwanderungsdebatte. Sie wollen es sich nicht länger gefallen lassen, dass die Grenzländer Migranten einfach innerhalb der EU weiterschieben.
In Brüssel wurde auch darum gerungen, verschiedenen Positionen in eine Abschlusserklärung zu fassen, auf die sich alle einigen können. Das Ergebnis: Die Migrationspolitik der EU wird härter, vor allem nach außen. Staaten, die abgelehnte Asylbewerber nicht zurücknehmen wollen, müssen zum Beispiel damit rechnen, dass die EU ihnen die Visafreiheit oder Zollvergünstigungen streicht. Reise- und Handelsabkommen sind künftig ein Hebel, um in der Migrationspolitik Druck zu machen.
Zudem forderten die Regierungen die EU-Kommission auf, den Mitgliedsländern mit Geld beim Ausbau des Grenzschutzes zu helfen. Die entsprechende Formulierung in der Abschlusserklärung wurde im Vergleich zu den Entwürfen verschärft – allerdings nicht so eindeutig, dass die Kommission nun tun müsste, was sie sich bisher strikt zu tun weigert, nämlich direkt für Stahlzäune und Stacheldraht an den EU-Außengrenzen zu bezahlen. Das müssen die EU-Länder auch künftig aus ihren eigenen Haushalten finanzieren. Sie können jedoch Entlastung aus Brüssel bekommen: Die Kommission soll künftig mehr Geld dafür bereitstellen, um andere Grenzschutzinfrastruktur zu bezahlen, Kameras und Sensoren zum Beispiel oder Fahrzeuge und Wachtürme. Den EU-Regierungen bleibt somit mehr eigenes Geld für Zäune und Mauern.
In den Schlussfolgerungen des Gipfels heißt es nun, dass EU-Mittel für „Infrastruktur“ an den Grenzen mobilisiert werden sollten, dabei geht es um Kameras und Luftüberwachung, etwa an der Landgrenze Bulgariens zur Türkei. Die entscheidende Frage, ob an Europas Außengrenzen Asylsuchende abgehalten werden dürfen, wird in dem Gipfelbeschluss nicht angesprochen. Nach aktuellem EU-Recht darf laut juristischer Mehrheitsmeinung niemand beim illegalen Grenzübertritt in die EU gestoppt werden, sobald er laut Eigenauskunft Asyl sucht – was fast alle aufgegriffenen Migranten tun. Diese Rechtsauffassung vertritt auch die EU-Kommission. Deren Präsidentin Ursula von der Leyen machte dennoch nach dem Gipfel eine wuchtige Ankündigung: „Wir werden handeln, um unsere Außengrenzen zu stärken und irreguläre Migration zu verhindern.“
Regierungen wie die belgische, niederländische und österreichische klagen zudem, dass Ankunftsländer wie Italien, Bulgarien und Griechenland nicht alle Flüchtlinge registrieren, wie es vorgeschrieben ist, sondern sie weiterreisen lassen. Diese Menschen beantragen dann zum Beispiel in Belgien oder Deutschland Asyl. Belgiens Premierminister Alexander De Croo sagte, es sei „nicht akzeptabel, dass Länder wie Belgien und die Niederlande einen überproportionalen Anteil der Arbeit übernehmen und es keine Solidarität von anderen europäischen Staaten gibt“.
Die EU-Kommission schlug daher vor, die Regeln für staatliche Beihilfen der nationalen Regierungen zu lockern und auch Brüsseler Fördergeld umzuschichten. Umstritten ist insbesondere, wie sehr die Subventionsvorschriften aufgeweicht werden sollen. In der EU müssen Regierungen ihre Beihilfen von der Kommission billigen lassen. Dies soll verhindern, dass Unternehmen die Mitgliedstaaten gegeneinander ausspielen und dass der Binnenmarkt verzerrt wird.
Alle Veröffentlichungs- und Urheberrechte sind dem MENA Research and Study Center vorbehalten.