Seit Mitte Januar ist die Schlüsselfigur im EU-Korruptionsskandal Kronzeuge der Staatsanwaltschaft. Seitdem war es auffällig ruhig um Pier Antonio Panzeri, 67 Jahre alt, Sozialdemokrat aus Italien, Europaabgeordneter bis 2019 und danach Direktor einer ebenso lukrativen wie dubiosen Nichtregierungsorganisation namens „Fight Impunity“. Nun aber sind die Zeitungen „Le Soir“ und „La Repubblica“ an die Protokolle von Vernehmungen herangekommen, die zwischen dem 2. und 13. Februar stattfanden. Panzeri gibt darin weitere Einsichten in das Bestechungssystem, das er gemeinsam mit seinem früheren Assistenten im Parlament Francesco Giorgi aufgebaut hat. Er belastet Giorgi, dessen Lebensgefährtin Eva Kaili, die frühere Vizepräsidentin des Parlaments, und weitere Europaabgeordnete schwer, die alle von der Staatsanwaltschaft beschuldigt werden. In seinen Aussagen taucht aber auch ein neuer Name auf – und ein weiteres Land, das neben Qatar und Marokko in den Skandal verstrickt sein soll.
Alles begann mit Marokko
In den Verhören beschreibt Panzeri, wie 2012 seine Verbindung mit Abderrahim Atmoun begann, der jetzt als marokkanischer Botschafter in Polen fungiert. Panzeri sagte, der marokkanische Diplomat habe 2014 50.000 Euro für eine seiner Wahlkampfveranstaltungen in Mailand bezahlt, und seine „Freundschaft mit Atmoun sei mit der Zeit stärker geworden“. Botschafter Atmoun habe auch verschwenderische Reisen nach Marokko für Kaili, Giorgi und zwei weitere EU-Abgeordnete, Andrea Cozzolino und Maria Arena, bezahlt. Erst ab 2019 soll von Marokko Geld geflossen, nachdem er und Giorgi sich bereit erklärten, 50.000 Euro pro Jahr zu nehmen, um dafür zu arbeiten, einen positiven Eindruck des nordafrikanischen Staates in politischen Kreisen der EU zu hinterlassen.
Er gab auch an, dass etwa zur gleichen Zeit eine ähnliche Vereinbarung mit Regierungsvertretern von Mauretanien getroffen worden sei, wobei sowohl er als auch Giorgi nur zwei Zahlungen von jeweils 50.000 Euro erhalten haben sollen. Zwischen 2019 und 2021 hätten also sowohl er selbst als auch Giorgi jeweils 100.000 Euro von dort bekommen, sagte Panzeri aus. Dies wiederum führte er zurück auf ein Treffen mit dem ehemaligen Präsidenten des Landes Mohamed Ould Abdel Aziz Ende 2018, als Panzeri selbst noch Europaabgeordneter war und den Ausschuss für Menschenrechte leitete. Aziz habe den Wunsch geäußert, „dass man nicht schlecht über sein Land spricht und sich dafür eher auf positive Weise interessiert“. Bisher hatte nur Giorgi Mauretanien erwähnt und ausgesagt, dass er seine Brüsseler Wohnung dem Botschafter des Landes für 1500 Euro im Monat vermietet habe. Dies sei im Gegenzug für eine Beratung erfolgt. Dagegen habe Panzeri 25.000 Euro bekommen.
Geld aus Katar floss über „türkischen Geschäftsmann“
Während der Verhöre mit der belgischen Justiz behauptet Panzeri, Katar habe Ende 2017 versucht, sein Einflussnetzwerk in den EU-Institutionen auszuweiten. Zu diesem Zeitpunkt begannen die Zahlungen an die politischen Entscheidungsträger der EU zu fließen. Die Regierung Katars habe nach einem Treffen der Beschuldigten mit Katars Arbeitsminister Ali bin Samikh Al Marri Anfang 2018 zugestimmt, ihm und Giorgi 2018 und 2019 jeweils 1 Million Euro pro Jahr zu zahlen. Die Verhörprotokolle deuten darauf hin, dass 2018 Giorgis Partnerin Eva Kaili begann, in das Nebengeschäft ebenfalls einzusteigen. Panzeri behauptet, die griechische Europaabgeordnete habe 250.000 Euro von Katar erhalten, um ihren Wahlkampf für die Wiederwahl zum Europäischen Parlament 2019 zu finanzieren.
Während einige Details der Geldtransfers unklar bleiben, soll ein Großteil des katarischen Geldes durch einen „türkischen Geschäftsmann und seinen Anwalt in London“ an die Lobbyisten in Brüssel geflossen sein. Panzeri behauptet auch, ein weiterer italienischer Abgeordneter habe ebenfalls Bargeld erhalten und sich mit Gesprächspartnern getroffen, die an dem mutmaßlichen Korruptionsring beteiligt waren.
Katar soll mindestens 2,4 Millionen Euro für die Bestechung bezahlt haben. Die größte Zahlung erfolgte gemäß der Aussage des Kronzeugen nach dem Treffen mit Abgeordneten im Frühjahr 2019 in Doha. Franceso Giorgi habe seinerzeit 1,25 Millionen Euro erhalten und einen Teil an die Abgeordneten weitergegeben. Sie selbst hätten 250.000 Euro eingestrichen. Später seien weitere große Summen geflossen, weil Katar Einfluss auf den Internationalen Gewerkschaftsbund nehmen wollte. Den größten Teil, 500.000 Euro, will Panzeri bei sich aufbewahrt haben. So erklärt er die große Summe Bargeld, die Ermittler fanden, als sie am 9. Dezember seine Brüsseler Wohnung durchsuchten – dem Tag, als der Skandal öffentlich wurde.
„Ich bin nicht der Mastermind“
Irgendwann während der fast sechsstündigen Vernehmungen sagte Panzeri den Staatsanwälten, er wolle „die Idee demontieren“, dass er der „Mastermind“ hinter dem System sei. Vielmehr sei sein Assistent Giorgi der „Bote“ gewesen und hat allen Beteiligten, einschließlich Panzeri selbst, Umschläge und Taschen mit Bargeld übergeben. Er beschrieb, wie er persönlich den belgischen Europaabgeordneten Marc Tarabella mit anfänglich 20.000 Euro in bar „überzeugt“ habe für die Unterstützung Katars in Brüssel und dass Tarabella im Laufe der Zeit bis zu 140.000 Euro erhalten habe. Tarabella stimmte im Februar für die Aufhebung seiner eigenen parlamentarischen Immunität und wurde kurz darauf festgenommen.
Unklar bleibt, ob die Millionen Euro aus Katar an Giorgi und Panzeri zur Bestechung anderer EU-Beamter oder nur zur Bezahlung ihrer Dienste verwendet werden sollten.
Panzeri verlor seinen Posten im Parlament bei den Wahlen 2019, laut seiner Vernehmung soll dann sein italienischer Kollege Andrea Cozzolino eingenommen haben, der ca. 600.000 Euro erhalten habe, um sich für Katar einzusetzen. Giorgi wurde Cozzolinos Assistent im Europäischen Parlament.
Neue Spur ins konservative Lager?
Bislang wurde davon ausgegangen, dass alle Beteiligten des Skandals auf Brüsseler Politebene Mitglieder der Sozialdemokraten gewesen sind. Laut den Protokollen der Verhöre Panzeris könnte sich nun der Kreis der Verdächtigen auf die Konservativen der EVP ausweiten: Lara Comi, italienische Christdemokratin von Forza Italia. Sie rückte im November vorigen Jahres für den Parteichef Silvio Berlusconi nach, der sein Mandat aufgab, nachdem er zum Senator in Rom gewählt worden war. Zuvor hatte sie dem Parlament schon von 2009 bis 2019 angehört.
Comi soll im März oder April 2019 an einem Treffen in Qatar teilgenommen haben, bei dem das Emirat seine finanzielle Unterstützung im Wahlkampf für die Europawahl Ende Mai anbot. Ebenfalls anwesend sollen Andrea Cozzolino und Kaili gewesen sein, wobei sich Panzeri bei der Griechin nicht ganz sicher ist. Auf jeden Fall gehöre sie aber zu den Begünstigten. „Ich bin mir sicher, dass die Qatarer am Ende dieses Treffens entschieden haben, für die Wahlkampagne der drei jeweils 250.000 Euro zur Verfügung zu stellen“, behauptet der Kronzeuge.
Geld in den Mülleimer geschmissen
Ob Comi das Geld auch tatsächlich bekommen hat, ist ungewiss, denn Panzeri kann sich nicht mehr erinnern, denn für die Verteilung soll ja Giorgi zuständig gewesen sein, der in seiner ersten Vernehmung ein Teilgeständnis ablegte und sich als „Kassenwart“ zu erkennen gab. Panzeri berichtet von einem weiteren Vorfall, der selbst im Kontext dieser Affäre erstaunen lässt. So habe ihn die Comi „im April oder Mai 2019“ angerufen und gebeten, eine Tasche aus ihrer Brüsseler Wohnung zu holen. Panzeri schickte einen Mitarbeiter der sozialdemokratischen Fraktion, der die Tasche bei sich verwahrte. Kurz darauf wurden im Rahmen eines größeren italienischen Skandals Betrugsvorwürfe gegen Comi erhoben, sie betrafen auch die Finanzierung ihres Wahlkampfs. Als Panzeri davon erfuhr, öffnete er gemeinsam mit dem Boten die Tasche. „Ich sah darin Kleidung und leere Bücher, in denen 60.000 bis 70.000 Euro steckten, ich habe sie nicht gezählt. Also nahm ich alles und beschloss, das Geld in den Müll zu werfen“. Woher das Geld gekommen sei, wisse er nicht. Comis Wiederwahl scheiterte am schlechten Ergebnis ihrer Partei.
Die Politikerin, die sich wegen des italienischen Betrugsfalls derzeit vor Gericht verantworten muss, ließ die Vorwürfe zurückweisen. Comi habe niemals illegale Zahlungen für ihre Wahlkampagne 2019 angenommen, teilte ihr Anwalt mit, auch nicht zum Vorteil von Drittstaaten. „Folglich wurde keine Finanzierung der Wahlkampagne von 2019, die von Panzeri vorgeschlagen wurde, von Frau Comi angenommen, verwendet oder nicht deklariert, wie es das Gesetz vorschreibt.“ Dass es ein Angebot Panzeris gegeben habe, stellt der Anwalt also nicht infrage. Die Fraktion der Europäischen Volkspartei, der Comi angehört, muss nun entscheiden, wie sie mit diesem Fall verfährt. Man werde sich auf die Bewertung der Staatsanwaltschaft stützen, nicht eines Beschuldigten, sagte ein Fraktionssprecher. „Falls die Staatsanwaltschaft Anschuldigungen erhebt, werden wir entsprechend handeln.“ Comi könnte also ausgeschlossen werden.
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