Im Nahen Osten bahnt sich eine Zeitenwende an: Der Griff des Iran nach der Atombombe und seine Zusammenarbeit mit Russland im Krieg gegen die Ukraine, die neuen Allianzen zwischen Israel und seinen einst feindseligen Nachbarn wie den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Expansionspolitik der Türkei rund um das östliche Mittelmeer – das alles sind bedeutende Wegmarken. Die mit Abstand wichtigste Entwicklung aber ist der Niedergang der amerikanischen Vorherrschaft in der Region. Deren Geschichte ist ein Schlüssel zum Verständnis der jüngsten Nahost-Konflikte.
Anders als oft angenommen, ist die US-Hegemonie im Orient nicht althergebracht: Sie etabliert sich erst in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre. Zwar sind die USA auch schon davor im Nahen Osten präsent, aber sie agieren zunächst zögernd – unter anderem, weil die alte Hegemonialmacht Großbritannien sich nur schrittweise zurückzieht. Erst 1971 entlässt sie ihre letzten Besitzungen in der Region in die Unabhängigkeit: Bahrain, Katar und die heutigen Vereinigten Arabischen Emirate.
Dass Washington danach auf den Plan tritt, hat zwei Gründe: die Blockkonfrontation mit der Sowjetunion – und der Ölreichtum am Persischen Golf.
Im Mittelpunkt der US-Politik steht anfangs das Königreich Saudi-Arabien, denn dort fördert die US-Firma Aramco seit den Vierzigerjahren den begehrten Rohstoff, der vor allem für den Wiederaufbau Westeuropas benötigt wird. Seit einem Treffen zwischen US-Präsident Franklin D. Roosevelt und dem saudischen König Abdel Asis ibn Saud im Februar 1945 gilt die Formel „Öl für Sicherheit“. Ein stärkeres Engagement aber folgt daraus zunächst nicht.
Das ändert sich, als die Sowjetunion immer mehr Verbündete in der Region findet. In Ägypten, im Irak, in Syrien und weiteren Ländern putschen sich linksnationalistische Militärs an die Macht und schließen sich dem sowjetischen Lager an. Im Oktober 1973 verursachen Ägypten und Syrien dann die gefährlichste Konfrontation des Kalten Kriegs im Nahen Osten: Sie überfallen Israel, das sich – von den USA massiv unterstützt – nach einem ersten Schock erfolgreich wehrt. Der Jom-Kippur-Krieg endet nach wenigen Wochen. Folgen hat er weit über die Region hinaus: Das Ölembargo, das die Golfstaaten infolge des Krieges verhängen, löst eine schwere Rezession in den westlichen Industriestaaten aus.
Um Moskau und seinen Vasallen entgegenzutreten, hat Washington schon in den 60er Jahren nach militärisch starken Verbündeten in der Region gesucht. Vor allem der iranische Schah Reza Pahlevi bot sich an. Mit amerikanischer Hilfe steigt der Iran zur Vormacht am Golf auf. Entsprechend groß ist das Entsetzen in den USA, als Revolutionäre unter der Führung von Ajatollah Chomeini den Schah 1979 stürzen und die Isla- mische Republik ausrufen.
Die größte Sorge der US-Regierung ist es nun, dass die Sowjetunion – die im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert – die Situation nutzen könnte, um auf den Persischen Golf vorzurücken. „Der Versuch jeder auswärtigen Macht, die Kontrolle über die Region des Persischen Golfs zu gewinnen, wird als ein Angriff auf die vitalen Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika betrachtet und wird mit allen notwendigen Mitteln, einschließlich militärischer Gewalt, zurückgeschlagen werden«, verkündet US-Präsident Jimmy Carter im Januar 1980. Anfangs richtet sich diese Drohung vor allem gegen Moskau. Doch schnell zeigt sich, dass die größte Gefahr von Teheran ausgeht.
Zum Anlass einer ersten US-Intervention wird denn auch der Iran-Irak-Krieg von 1980 bis 1988. Als die Iraner beginnen, Öltankschiffe im Golf anzugreifen, bittet Kuwait um Hilfe. Während des »Tankerkriegs« von 1987/88 eskortieren US-Kriegsschiffe kuwaitische und saudische Öltransporter, mehrmals entbrennen Gefechte zwischen der amerikanischen und der iranischen Marine. Dieser nicht erklärte Krieg zur See trägt dazu bei, dass Chomeini 1988 in einen Waffenstillstand einwilligt.
Wer sich mit dem blutigen Unentschieden nicht zufriedengibt, ist der irakische Diktator Saddam Hussein. Er will eine Vormachtstellung am Persischen Golf erringen, die Kontrolle über die wichtigsten Ölvorkommen übernehmen und schließlich Israel zerstören. Im August 1990 lässt er seine Soldaten in das ölreiche Kuwait einmarschieren.
Die USA und die saudi-arabische Führung befürchten zu Recht, dass Hussein bis in die Ostprovinz Saudi-Arabiens vorstoßen will, wo damals die weltweit größten Ölreserven lagern. Wäre ihm dies gelungen, hätte er etwa ein Viertel der globalen Erdölproduktion kontrolliert. Deshalb setzt Washington kurz nach der Invasion Truppen in Marsch, die Saudi-Arabien schützen und Kuwait befreien sollen.
Möglich ist die Rückeroberung des Emirats allerdings nur, weil die Sowjetunion nicht mehr als Schutzmacht ihres einstigen Klienten Irak auftritt. Moskau verzichtet sogar auf ein Veto im Sicherheitsrat. So gelingt es den USA, eine breite internationale Koalition zu schmieden.
Nach der Niederlage der irakischen Armee im März 1991 bauen die USA ihre Präsenz im Nahen Osten stark aus, auch wenn sie auf einen Sturz Saddam Husseins verzichten. Bis 1990 beschränken sie sich vor allem auf Bahrain, wo die US-Marine seit mehreren Jahrzehnten einen Flottenstützpunkt unterhält. Nun überwacht die U.S. Air Force außerdem mit rund einhundert in Saudi-Arabien stationierten Kampfjets Flugverbotszonen im Norden und Süden des Irak.
Gleichzeitig versuchen die USA, den Iran in Schach zu halten – eine Strategie der „doppelten Eindämmung“. Washington isoliert beide Länder durch internationale Diplomatie, schwächt sie durch Sanktionen und rüstet die Nachbarstaaten auf.
Damit ziehen die Amerikaner schon bald den Hass eines neuen Gegners auf sich: islamistischer Terroristen. Saudi-Araber wie der Al-Kaida-Führer Osama bin Laden wollen die US-Truppen aus der Region vertreiben, verbünden sich mit älteren Gruppierungen aus Ägypten und starten eine Terrorkampagne, die in den Anschlägen vom 11. September 2001 gipfelt.
Die Reaktion der USA verändert den Nahen Osten dramatisch: Zunächst greifen sie Afghanistan an, wo Bin Laden und seine Gefolgsleute unter dem Schutz der Taliban stehen, dann, 2003, folgt die Invasion des Irak – mit der Begründung, die irakische Führung unterstütze Al-Kaida und betreibe Programme zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen. Beides stellt sich als unwahr heraus.
Der Grund für den Einmarsch dürfte ohnehin ein anderer gewesen sein: Führende amerikanische Neokonservative wollten Saddam Hussein schon 1991 stürzen – und sie glauben, dass der islamistische Terrorismus seine Ursache in den autokratischen Regimen der Region habe. Länder wie Ägypten oder Saudi-Arabien unterdrückten ihre Opposition so brutal, dass diese sich gegen ihre Regierungen und deren Verbündete, die USA, auflehnen. Deshalb gelte es, im Irak eine liberale Demokratie zu errichten, die leuchtturmartig auf die ganze Region ausstrahle.
Es kommt anders. Denn die Amerikaner gewinnen im Irak zwar den Krieg, aber nicht den Frieden. Ende April haben sie das Land mit Unterstützung britischer Truppen vollständig besetzt. Danach nimmt das vielleicht größte Fiasko der amerikanischen Weltpolitik seinen Lauf.
Schnell erweist sich die Idee, das Land von außen zu demokratisieren, als realitätsfern. Eine Erhebung sunnitischer Gruppen gegen die Besatzungstruppen mündet 2006/07 sogar in einen Bürgerkrieg, der die mächtigen US-Truppen an den Rand einer Niederlage bringt. Erst 2008 gewinnen sie wieder die Oberhand – unter anderem durch eine massive Aufstockung ihrer Kräfte. Dazu ziehen die USA Soldaten und Geheimdienstmitarbeiter aus Afghanistan ab, wo 2005 ein Aufstand der Taliban ausgebrochen ist.
Der größte Gewinner des Krieges ist der Iran: Über verbündete schiitische Politiker, Parteien und Milizen baut das Land seinen Einfluss im Irak immer weiter aus. Bald kann in Bagdad keine wichtige Entscheidung mehr gegen den Willen Teherans getroffen werden. Dadurch ermutigt, setzen die Nachfolger Chomeinis um den Obersten Führer Ali Chamenei alles daran, die USA aus dem Nahen Osten zu verjagen: An die Stelle der amerikanischen soll eine iranische Hegemonie treten.
Wie rasch der Iran erstarkt, zeigt der Sommerkrieg im Libanon zwischen der von Teheran tatkräftig unterstützten Hisbollah und Israel im Jahr 2006: Dem israelischen Militär gelingt es nicht, die Schiitenorganisation, die den Norden Israels wochenlang mit Raketen beschießt, entscheidend zu schlagen.
In den USA wächst unterdessen der Überdruss angesichts der kostspieligen und verlustreichen Auslandseinsätze. Dies ist ein Grund für den Wahlsieg des Demokraten Barack Obama im November 2008, der schon früh von einem „dummen Krieg“ im Irak gesprochen hat. Die USA, findet er, sollten ihr Engagement im Nahen Osten zurückfahren und stattdessen nach Asien umschwenken. Obama erblickt im Aufstieg Chinas und in der wachsenden Bedeutung der Pazifikregion die große Herausforderung amerikanischer Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Früh leitet der neue Präsident deshalb den Abzug der US-Truppen aus dem Irak ein. Im Dezember 2011 ist er abgeschlossen – ein Jahr nach dem Beginn des Arabischen Frühlings, der die Aufmerksamkeit der US-Regierung aufs Neue erzwingt.
Sorge bereiten den USA die Aufstände und Bürgerkriege in Libyen, Syrien, dem Irak und dem Jemen vor allem deshalb, weil sie die Erfolge des internationalen Kampfes gegen den Terror gefährden. Zwar ist die einst mächtige Al-Kaida deutlich geschwächt, seit US-Spezialkräfte Osama bin Laden 2011 im pakistanischen Abbottabad getötet haben und die Führungsspitze durch den von Obama forcierten Drohnenkrieg dezimiert worden ist. Dafür nutzt jetzt der Islamische Staat (IS) die Schwäche des syrischen und des irakischen Staates.
Die neue Terrormiliz hat sich unter anderem aus alten Kadern des Saddam-Regimes rekrutiert, ist also ebenfalls eine Folge der US-Invasion im Irak. Als die Gotteskrieger 2014 große Teile Syriens und des Irak besetzen, schicken die USA abermals Truppen. 2015 haben sie in so vielen Ländern des Nahen Ostens Soldaten stationiert wie nie zuvor.
Der Wille zum Rückzug ist dennoch nicht zu übersehen, und bei den Verbündeten in Riad, Abu Dhabi, Kairo und anderswo verfestigt sich der Eindruck, die USA wollten sich ihrer entledigen. Besonders schockiert sind die Potentaten am Golf Anfang 2011, als Obama den Sturz des ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak ohne jedes Bedauern zur Kenntnis nimmt. Auch dass der US-Präsident im August 2013, nachdem der syrische Diktator Assad einen Vorort von Damaskus mit Chemiewaffen hat angreifen lassen, einen für diesen Fall angekündigten Militärschlag absagt, löst Irritation aus.
Noch mehr Vertrauen zerstört die Iran-Politik Obamas. 2015 stimmt der Iran einer Begrenzung seiner Uran-Anreicherung und strikten Kontrollen für sein Atomprogramm zu. Im Westen wird das Abkommen als Erfolg der US-Politik gefeiert – bei Washingtons Verbündeten im Nahen Osten, einschließlich Israels, stößt es auf strikte Ablehnung. Die Herrscher am Golf fürchten, die USA könnten einen Ausgleich mit dem Iran suchen und sie dabei opfern. Und sie kritisieren, dass weder das iranische Raketenprogramm noch Teherans Unterstützung militanter Gruppen im Irak, in Syrien, im Libanon und im Jemen Gegenstand der Vereinbarung sind.
Donald Trump ist in vielem ein Antipode Barack Obamas. Als er im Januar 2017 ins Weiße Haus einzieht, zeigt sich allerdings, dass auch seine Regierung auf China statt auf den Nahen Osten blickt. Zwar kündigt Trump 2018 unter dem Beifall Jerusalems, Riads und Abu Dhabis das Atomabkommen mit dem Iran auf und setzt auf eine Politik des „maximalen Drucks“. Zu einem militärischen Engagement aber ist er nicht bereit: Als iranische Drohnen und Marschflugkörper am 14. September 2019 in den Ölanlagen von Churais und Abkaik im Osten Saudi-Arabiens einschlagen – was die Ölproduktion des Landes für zwei Wochen auf etwa die Hälfte reduziert –, bleibt ein amerikanischer Vergeltungsschlag aus. Die alte Formel „Öl für Sicherheit“ ist Geschichte.
Trumps Nachfolger Joe Biden setzt diesen Kurs fort: Der desaströse Truppenabzug aus Afghanistan im August 2021 ist ein untrügliches Indiz für die weltpolitische Neuorientierung der USA. Biden will Ressourcen für den aufziehenden Großkonflikt mit China frei machen. Die amerikanischen Prioritäten haben sich gen Osten verschoben.
Der große Profiteur ist wieder einmal der Iran. Mittlerweile steht er kurz davor, zur Nuklearmacht aufzusteigen. Angesichts dieser Bedrohung haben Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate in den vergangenen Jahren nach einem neuen Verbündeten gegen ihren Erzfeind gesucht. Sie fanden ihn in Israel. Die Emirate und Bahrain schlossen 2020 sogar Friedensverträge mit dem jüdischen Staat, die nach dem gemeinsamen Stammvater Abraham benannt wurden; Saudi-Arabien baute seine militärische und geheimdienstliche Zusammenarbeit mit dem vormaligen Feind aus – eine neue nahöstliche Allianz, um dem iranischen Vormachtstreben nach dem Ende der US-Hegemonie Einhalt zu gebieten.
Der nächste Krieg im Nahen Osten ist abzusehen: Premierminister Benjamin Netanjahu hat mehrfach erklärt, dass Israel eine atomare Bewaffnung des Iran mit Militärschlägen verhindern werde. Welche Rolle die USA dabei spielen werden, bleibt vorerst unklar. Doch bahnt sich womöglich schon die nächste Wendung in der Geschichte der US-Präsenz im Nahen Osten an. Letzten Monat, am 10. März 2023, haben sich Saudi-Arabien und der Iran darauf geeinigt, ihre 2016 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen. Der Vermittler zwischen den Rivalen ist China, das damit seinen Anspruch auf Mitsprache in der Region demonstriert.
Es entspräche der Logik der Auseinandersetzung zweier Großmächte, dass die USA sich künftig wieder mehr um den Nahen Osten kümmerten – allein um den Einfluss Pekings zu begrenzen. Setzen die Amerikaner ihren Rückzug trotzdem fort, wird dies einer schweren Niederlage gleichkommen im entscheidenden Großmachtkonflikt des 21. Jahrhunderts.
Alle Veröffentlichungs- und Urheberrechte sind dem MENA Research and Study Center vorbehalten.