Neben der immer wiederholten Propaganda Putins, die Ukraine müsse „denazifiziert“ werden, kommt aus dem Kreml auch die These, der Westen sei von Satan kontrolliert.
Dieses religiöse Motiv gehört mittlerweile zu einem Hauptargument der russischen Regierung, wenn der Imperialismus des Kreml gerechtfertigt soll: Auch in Offizieller des Russischen Sicherheitsrates hat in einem Artikel eine „Desatanisierung“ als „dringliches“ Ziel im Ukraine-Krieg ausgerufen. Die „Kirche des Satans“ breite sich in der gesamten Ukraine aus, behauptete dieser auf der Webseite aif.ru. Er verwies, ganz auf Linie mit Argumentationen Putins, auf Wurzeln des vermeintlichen Phänomens in den USA: Satanismus sei dort „eine der offiziell anerkannten Religionen“. Ukrainische Behörden unterstützten die Tendenzen, erklärte er.
Nach Einschätzung des US-Think-Tanks „Institute for the Study of War“ (ISW) könnte Putins Regierun ganz gezielt „religiöse Minderheiten“ in den russischen Streitkräften adressieren. Offizielle versuchten, den Krieg mit religiösen Konzepte in Verbindung zu bringen – und zwar mit solchen, die sowohl für Christen als auch für Muslime zugänglich seien.
Russland hatte zuletzt Berichten zufolge in unverhältnismäßig großem Maße Minderheiten für die Armee (zwangs-)rekrutiert. Auch und gerade in muslimisch geprägten Teilrepubliken des riesigen Landes. Nach Informationen des ISW war es nun zu „Gewaltausbrüchen“ zwischen Angehörigen verschiedener Religionen in den Truppen gekommen. Den vermeintlichen Kampf gegen das Böse könnte der Kreml nun als Kitt für diese Risse ausgemacht haben. Der Kreml hat nicht nur auf „Sekten“ in der Ukraine verwiesen, sondern auch erklärt, die ukrainische Gesellschaft sei von „Fanatikern“ geprägt, die sich gegen christliche, muslimische und auch jüdische „Werte“ wendeten. Der Machthaber von Putins Gnaden in Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, hatte Muslime direkt angesprochen: Er sprach von einem „Dschihad“ gegen ukrainischen „Satanismus“.
Der Tschetschenenführer ging aber auch noch einen Schritt weiter. Er griff den Westen und „Europa“ an. „Der Satanismus agiert offen gegen Russland“, erklärte er auf seinem Telegram-Account veröffentlichten Statement. Die Rechte von Atheisten würden geschützt, jene von „Gläubigen“ verletzt.
Kadyrow behauptete weiter, Kinder würden „traditionellen“ Paaren weggenommen und „bewusst“ an gleichgeschlechtliche Paare gegeben – ein Narrativ, das unter anderem auch im schwedischen Wahlkampf für Entsetzen und Unverständnis gesorgt hatte. Der Hardliner verknüpfte seine Thesen mit einer kaum verhohlenen Drohung: Teilnehmer einer Demonstration gegen Mohammed-Karikaturen in Tschetscheniens Hauptstadt Grosny hätten gedroht, zum Kampf „nach Europa zu gehen“.
Putin hat anscheinend, nicht nur durch Zutun des Moskauer Patriarchen Kyrill, die Religion als Vehikel entdeckt, um den Glauben als Progaganda-Waffe gezielt einzusetzen. Und das nicht nur für die Rekrutierung von neuen Soldaten in Russland selber, sondern auch als Faktor für eine mögliche gesellschaftliche Destabilisierung in Europa sowie der Idee, die muslimisch geprägten Staaten an die Seite Moskaus zu ziehen.
Da kam die Entscheidung des Kreml zur richtigen Zeit, das „Russisch-Islamische Forum“ Ende diesen Monats in Kazan abzuhalten: Die Hauptstadt von Tatarstan, die etwa 800 km östlich von Moskau liegt, wird vom russischen Staat als erfolgreiches Beispiel für Multikulturalismus und friedliches religiöses Koexistenz angesehen. Das Forum in Kazan zielt darauf ab, die wirtschaftlichen, kulturellen und intellektuellen Verbindungen zwischen Russland und den 57 Mitgliedsländern der Organisation der islamischen Zusammenarbeit (OIC) zu stärken, einer Organisation, die 1969 gegründet wurde, um die „kollektive Stimme der muslimischen Welt“ zu repräsentieren.
Obwohl Russland kein vollständiges Mitglied der OIC ist, war Präsident Wladimir Putin 2003 das erste Staatsoberhaupt, welches eingeladen wurde, auf einem OIC-Gipfel zu sprechen. Zwei Jahre später erzielte Putin einen diplomatischen Sieg, als Russland als Beobachterstaat in die OIC aufgenommen wurde.
Es ermöglichte Russland auch, ein Gefühl der Zugehörigkeit in der muslimischen Welt zu beanspruchen, eine Position, die Putin schon immer anstrebte. Der Präsident hat in der Vergangenheit die religiöse und ethnische Vielfalt Russlands als Instrument gefördert, um das Land als Schlüsselmediator zwischen West und Ost zu positionieren. Um den Einfluss innerhalb der muslimischen Länder aufrechtzuerhalten, schuf Russland 2006 eine „strategische Vision“, die heute von Rustam Minnikhanov geleitet wird.
Der tschetschenische Führer Ramzan Kadyrov hat auch eine aktive Rolle beim Aufbau von Beziehungen zu Golfstaaten übernommen, in denen eine gemeinsame religiöse Identität eine Schlüsselrolle spielt. In den Jahren 2018 und 2022 machte er Pilgerreisen nach Saudi-Arabien und traf sich während seiner Besuche mit der saudischen Führung.
Der Gipfel in Kazan soll daher mehrere Signale setzen. In Moskau gibt es eine klare Absicht, die islamische Welt in den Mittelpunkt zu stellen. Im März veröffentlichte der Kreml eine neue außenpolitische Doktrin, in der das Wort „islamisch“ zum ersten Mal vorkam und es sich zum Ziel macht, die Beziehungen zu muslimischen Ländern sowie Länder in Afrika und Südamerika zu vertiefen. Der russische Außenminister Sergei Lavrov hat wiederholt über die westlichen „kolonialen“ Einstellungen gegenüber dem Rest der Welt angeprangert und insbesondere den Westen als Hort des Bösen verrotte.
Aber auch in Europa selber versucht der Kreml, muslimische Communities für seine Propaganda zu nutzen. Sein Ziel ist dabei die gesellschaftliche Spaltung. Interessant ist hier besonders die Verbindung zum in Spanien ansässigen „European Muslim Forum“ (EMF). Es ist eng mit dem türkischen Regime vernetzt und hat an der Spitze einen Russen, Abdul-Wahed Nijasow. Auf Facebook hat der 1969 im sibirischen Omsk geborene und als Wohnsitz Brüssel angebende EMF-Präsident seine Vision veröffentlicht: „Der Islam ist die Rettung Europas!“
In der Ukraine war er auch bereits, MENA Research Center berichtete darüber: In Mariupol an der Seite tschetschenischer Kämpfer wurde er fotografiert. Aus seiner Nähe zum Tschetschenen-Präsidenten Ramsan Kadyrow macht Nijasow, der 2007 eine Bewegung „Muslime für Putin“ gegründet hatte, kein Geheimnis. Eng ist Nijasow auch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Schon 1995 feierte er mit dem damaligen Bürgermeister von Istanbul am 29. Mai den Jahrestag der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen 1453. Im vergangenen Jahr traf sich Nijasow in Istanbul mit Erdogans Sohn Bilal und der Religionsbehörde Diyanet. Gemeinsam sollen sie über Strategien und Taktiken für muslimische Communities gesprochen haben, die in einem „Großeuropa“ zu neuer Stärke geführt werden sollen. Bei diesem Treffen war auch Samir Falah, Ex-Präsident der Deutschen Muslimischen Gesellschaft (DMG) präsent. Die Gesellschaft wird vom deutschen Verfassungsschutz als Unterorganisation der extremistischen Muslimbruderschaft bezeichnet.
Auch bei politischen Parteien in der EU sucht das EMF Einfluss. So jubelte Nijasow Anfang Juni über den Auftritt des bosnischen Politikers Bakir Izetbegovic beim Kongress der Europäischen Volkspartei (EVP) in Rotterdam. „Wir unterstützen unseren Bruder dabei, seinem Land eine europäische Zukunft zu eröffnen“, schrieb Nijasow auf Facebook unter einem Foto von einem Treffen mit Izetbegovic im Juli 2021, bei dem dieser seinen Eintritt ins EMF-Kuratorium zugesagt haben soll.
Mehr Muslime könnten auch mehr Einfluss islamistischer Organisationen und damit Konfliktpotenzial für die EU bedeuten. Das wäre ganz im Sinn Putins. Eine Kooperation Putins mit islamistischen Gruppierungen in Europa ist Teil seiner hybrider Kriegsführung gegen den Westen. Es gehe dem Kreml darum, Organisationen zu stärken, die antidemokratische Ziele verfolgen. Man hat also schnell verstanden, dass auch Islamisten diesen Zweck erfüllen. Nun bleibt nur die Frage, ob die europäische Politik dies auch als Gefahr erkennt.
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