Welche außenpolitische Konsequenzen hat der erneute Sieg Erdogans in der Türkei? Die Niederlage von Kiliçdaroglu, der versprochen hatte, das Land auf einen demokratischeren und kooperativeren Weg zu bringen, wird in Moskau wahrscheinlich bejubelt werden. In den westlichen Hauptstädten könnte sie allerdings betrauert werden, weil die Türkei in der Außenpolitik eine konfrontativere und unabhängigere Haltung eingenommen hat.
Zu übermächtig waren seine finanziellen Mittel, die er im Vergleich zum Oppositionsbündnis der Freiheit zum Einsatz bringen konnte. Die Desinformations- und Diffamierungskampagnen mit Armeen von Trollen im Netz genauso wie die mutmaßliche Entsendung und indirekte Finanzierung zweier alternativer Präsidentschaftskandidaten in die Startaufstellung, um eine drohende Niederlage im ersten Wahlgang zu vermeiden, sowie die von der Opposition beklagten massiven Wahlfälschungen waren schlussendlich zu viel für das letzte Aufbäumen der Demokratie.
Das schamlose Verteilen von Bargeld bei Wahlkampfauftritten, die unendlichen, ungedeckten Schecks, die Erdogan nicht zuletzt mit finanzieller Unterstützung seiner Freunde in Moskau und Doha an die Bevölkerung einschließlich der Beamtenschaft verteilen ließ, um seine Macht zu retten, haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die Mobilisierungskraft war auf seiner Seite, und die politische Kernspaltung zwischen urbanen Küstenregionen und anatolischem Binnenland entfaltete mit eiskaltem Kalkül für ihn und seine AKP die inverse Kraft einer Kernfusion, die sein und das Überleben seines Regimes nunmehr langfristig sichert. Die freiheitlich-demokratische Welt sagt mit Tränen in den Augen: Auf Wiedersehen Türkei!
Unter Erdogan hat die Türkei ihre militärische Macht im Nahen Osten und darüber hinaus demonstriert und engere Beziehungen zu Russland geknüpft. Gleichzeitig werden die Beziehungen zur Europäischen Union und zu den Vereinigten Staaten zunehmend angespannt.
Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat Erdogan einen diplomatischen „Spagat“ vollzogen, indem er sich westlichen Sanktionen gegen Russland widersetzte, und gleichzeitig Drohnen nach Kiew schickte.
Experten zufolge will Erdogan nicht völlig mit dem Westen brechen, sondern nur seinen eigenen Weg gehen. Wahrscheinlich wird er auch weiterhin ein umstrittenes und kompliziertes Verhältnis zum Westen haben.
Aus europäischer Sicht sind einige zentrale Schlussfolgerungen zu ziehen. Zum einen eine ökonomische und zum anderen eine wahl- und verfassungsrechtspolitische Konsequenz: Ökonomisch wird die Türkei schweren Zeiten entgegen gehen. Die Entmachtung der türkischen Zentralbank und ihre quasi politische Eingliederung in das Präsidialamt wird eine Eindämmung der Hyperinflation nicht ermöglichen, sondern dieselbe noch verstärken und auf Dauer perpetuieren.
Manövrierten sich die meisten Türken bis dato soweit als möglich durch intra-familiäre Hilfen durch die schwierige hyperinflationäre Phase hindurch, so wird diese Widerstandskraft auf der Ebene des einzelnen Wirtschaftssubjekts mit der Zeit aufgerieben sein und erodieren. Frustration und die Erstickung jedweden Unternehmertums, dessen Früchte, bevor sie geerntet werden können, von der Geldentwertung bereits aufgefressen sind, werden zu wirtschaftlicher Lähmung und Apathie führen.
Die Ermangelung eigener Energierohstoffe, die stattdessen mit knappen Devisen auf den Weltmärkten beschafft werden müssen, werden die türkische Volkswirtschaft leistungs- und zahlungsbilanztechnisch weiter schwächen. Der Außenwert der türkischen Lira wird weiter fallen, und die Verschuldungskapazität an den Kapitalmärkten wird für das Land enger und enger. Eine Nicht-Einhaltung internationaler Zahlungsverpflichtungen und damit der technische Staatsbankrott scheint mit der Fortführung Erdogan‘scher Politik unausweichlich.
Erdogans Wahlsieg wird weder die rasende Inflation beenden noch internationale Investoren dazu bringen, plötzlich wieder mehr Geld in der Türkei zu investieren. Das Land steckt in einer anhaltenden, tiefen Wirtschaftskrise.
Den Sommer über könnte es noch gut gehen. Die niedrigen Preise dürften Touristen anlocken, Milliardengelder aus Russland und arabischen Staaten helfen dem türkischen Finanzsystem. Aber im Herbst, wenn die Einnahmen aus dem Tourismus einbrechen, wenn wieder geheizt werden muss und die Türkinnen und Türken die Energierechnungen mit ihrer schwachen Währung bezahlen müssen – dann könnte es sehr schnell weiter bergab gehen. Erdogan müsste dann doch endlich die Zinsen erhöhen, wie es im Rest der Welt bei steigenden Preisen üblich ist. Falls nicht, könnten die Türken noch mehr leiden als bisher. Dazu könnte ein sich beschleunigender Braindrain kommen: Bereits vor anderthalb Jahren haben 72,9 Prozent der 18- bis 25-Jährigen angegeben, das Land verlassen zu wollen. Manche nannten sich „Erdogan-Flüchtlinge“. Sie könnten nun Ernst machen.
Bei manchen Experten und Politikern in Brüssel war vor der Stichwahl eine Art zynische Hoffnung zu vernehmen: Lieber weiter mit Erdogan, an den man sich gewöhnt hat, als ein wilder Machtwechsel und eine möglicherweise unbequemere türkische Regierung. Nun geht es wirklich weiter wie bisher – und genau das ist das Problem. Die Beziehung der EU zur Türkei, und auf andere Art auch die der USA, ist das, was Experten häufig „transaktional“ nennen: auf interessengeleitete Tauschgeschäfte reduziert. Sei es in der Sicherheitspolitik oder bei Migrationsfragen. Formal ist das Land immer noch EU-Beitrittskandidat, aber dieser Status hat mit der echten Beziehung kaum mehr etwas zu tun.
Offen ist, wie Erdogan nach seinem Sieg mit Europa umgehen wird – er changiert seit Jahren zwischen nüchterner Interessenpolitik und lauten Schimpftiraden. Europa ist für ihn notwendiger Partner und Feindbild gleichzeitig. Und andersrum ist insbesondere Deutschland auf eine Art mit der Türkei verstrickt, die es eigentlich unmöglich macht, bloß kühl Deals auszuhandeln. All die Scharmützel der vergangenen Jahre um eingesperrte Journalisten, Schmähgedichte und Wahlkampfauftritte, vor allem aber die Millionen Menschen, die beide Länder in ihrer Biografie tragen: All das macht eigentlich ein besonderes deutsches Engagement notwendig, auch wenn auf den ersten Blick nun alles beim Alten zu bleiben scheint.
Der Economist hat auf seiner Titelseite den Wahlausgang in der Türkei mit der „Zukunft der Demokratie“ verknüpft und spekuliert: „Wenn die Türkei ihren Herrscher loswird, sollte das Demokraten überall ermutigen“. Müssen Demokraten nun, da Erdogan gewonnen hat, also entmutigt sein? Studien zeigen, dass in der Vergangenheit autokratische Herrscher fast immer durch einen Militärputsch oder, in selteneren Fällen, durch andauernde Massenproteste gestürzt wurden. Es ist extrem selten, dass sie sich per Wahl geschlagen geben.
Natürlich hätte es in der Türkei anders kommen können. Die 48 Prozent der Opposition sind ein Erfolg und können Motivation für kommende Wahlen sein. Schon im nächsten Jahr stehen wichtige Kommunalwahlen an. Und vielleicht ist das die optimistischste Lektion aus der Türkei-Wahl: Es geht um mehr als einen Urnengang, es geht um Beharrlichkeit. Ein Autokrat, der ständig gegen demokratischen Widerstand kämpfen muss, wird so zumindest gebremst.
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