Während wir den Zyklus der Interviews mit verschiedenen europäischen Experten und hohen Beamten fortsetzen, haben wir dieses Mal mit Vira Konstantynova, Associate Fellow am Centre for Middle East Studies (Kiew, Ukraine), über die Entwicklung in der MENA – Region gesprochen. Das Interview wurde von Denys Kolesnyk, einem französischen Berater und Analysten, wohnhaft in Paris, geführt.
Wie würden Sie die großen politischen und geopolitischen Herausforderungen beschreiben, vor denen die MENA – Region derzeit steht?
Ich möchte vor allem sagen, dass wir uns der Tatsache bewusst sein sollten, dass das Hauptproblem der geopolitischen Besorgnis in der MENA – Region derzeit das iranische Atomprogramm ist, und natürlich widmen sich die Weltmächte der Lösung dieser Frage. Medienberichten zufolge ist es möglich, dass es aufgrund der iranischen Atomambitionen zu einem weiteren großen Krieg in der Region kommt.
Um ehrlich zu sein, teile ich die Besorgnis über einen möglichen neuen großen Konflikt im Nahen Osten aufgrund mehrerer Faktoren nicht. Einer dieser Faktoren ist natürlich der russisch – ukrainische Krieg sowie die globale Destabilisierung im wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Bereich. Ich denke, dass sich alle arabischen Staatschefs der Notwendigkeit bewusst sind, Frieden und Stabilität in ihrer Region zu gewährleisten.
Ein weiterer Faktor ist aus meiner Sicht die iranische Atomfrage, die für Saudi – Arabien, Israel und andere MENA – Länder ziemlich heikel ist. Ich glaube, dass wir eine Art Veränderung in der Position der Weltmächte erleben werden. Da wir, wie Sie wahrscheinlich wissen, einen sogenannten Normalisierungsprozess zwischen Saudi – Arabien und dem Iran erleben, haben sich beide Länder darauf geeinigt, ihre diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen, einschließlich der Ernennung von Botschaftern. Auch die von den USA während der Trump – Regierung vorangetriebenen und gesponserten Normalisierungsschritte zwischen Israel und den arabischen Ländern dauert nach wie vor an. Deshalb glaube ich, dass es in der Region ein Verständnis von Frieden und Stabilität gibt.
Aber auf jeden Fall existiert hier weiterhin das iranische Regime mit seinen Problemen, einschließlich der Frauenproteste. Mit anderen Worten, wir können ein außergewöhnliches dund unvorhergesehenes Ereignis, wie etwa einen weitere Konflikt nicht völlig ausschließen, aber ich bleibe zuversichtlich, dass die Länder ib der Region unerwartete Schritte vermeiden würden, die den Frieden und die Stabilität in der Region gefährden könnten.
Lassen Sie uns über die Türkei sprechen. Präsident Erdogan wurde kürzlich als türkisches Staatsoberhaupt wiedergewählt. Wie wirkt sich das auf die Politik Ankaras in der Region aus?
Ich denke, wir müssen abwarten, wer zum neuen Außenminister ernannt wird. Sobald wir wissen, wer für die türkische Diplomatie zuständig ist, können wir damit beginnen, alle Veränderungen in der türkischen Außenpolitik zu entschlüsseln. Auf der anderen Seite, wenn Çavuşoğlu seinen Posten behält, werden diese Änderungen nicht sehr bedeutend sein.
Wir können jedoch bereits jetzt sagen, dass wir aufgrund interner Probleme mit einigen Änderungen in der Außenpolitik der Türkei rechnen können. In der vor ihm liegenden Amtszeit wird sich Erdoğan darauf konzentrieren müssen, diese internen Probleme anzugehen und die wirtschaftlichen Herausforderungen des Landes zu lösen. Das wäre der Schwerpunkt der Politik, aber gleichzeitig müssen wir bedenken, dass es auch Parlamentswahlen gab und Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) die meisten Sitze erhielt, wenn auch 27 Sitze weniger als beim letzten Mal.
Ich erwarte gewisse Verschiebungen innerhalb der Syrien – Frage, insbesondere angesichts der jüngsten Wiedereingliederung des syrischen Regimes in die Arabische Liga. Ein weiteres wichtiges Thema wäre meiner Meinung nach die bilaterale Beziehung zwischen den USA und der Türkei. Eines der Hauptthemen, sowohl aus sicherheitspolitischer als auch aus politischer Sicht, wird die Kurdenfrage sein. In innenpolitischer und humanitärer Hinsicht wird erwartet, dass die Rückkehr syrischer Flüchtlinge nach Syrien auf der Tagesordnung stehen wird. Es ist jedoch noch zu früh, um ernsthafte Schlussfolgerungen über die künftige türkische Herangehensweise in der Region zu ziehen, da die Wahlen gerade erst stattgefunden haben und einige Zeit erforderlich ist, um die internen Dynamiken, die die außenpolitische Agenda beeinflussen werden, und etwaige Änderungen im politischen Ansatz Ankaras richtig zu bewerten.
Die Türkei beabsichtigt, den BRICS und der SCO beizutreten. Wie könnte sich dies auf das Ansehen der Türkei in der Region auswirken?
Dies wird sich positiv auf diese Organisationen auswirken, da die Türkei ein einflussreicher regionaler Akteur ist. Ankara ist sowohl auf bilateraler Ebene als auch in verschiedenen multilateralen Plattformen, internationalen Organisationen oder Foren aktiv, wie MIKTA – einer informellen Mittelmächtepartnerschaft zwischen Mexiko, Indonesien, Südkorea, der Türkei und Australien. Die Türkei würde alles tun, um eigene nationalen Interesse zu vertreten, und eine Annäherung oder der Beitritt zu verschiedenen Organisationen wird ganz oben auf der Tagesordnung stehen.
Wir können auch auf die Probleme mit dem Antrag der Türkei, der Europäischen Union (EU) beizutreten, eingehen. Angesichts der Tatsache, dass der Prozess ins Stocken geraten ist und es keine Aussicht gibt, dass sich die Dinge für Ankara in eine positive Richtung entwickeln, könnte in diesem Zusammenhang auch ein Beitritt zu den BRICS oder der SCO ein Signal an Brüssel sein, dass die Türkei ein politisch wichtiger Akteur in der Region ist. Sollte die EU – Integration nicht funktioniert, signalisiert Ankara mit diesem Beitritt Brüssel deutlich, dass man auch in anderen Formaten und Frameworks Optionen mit anderen Regionen hat und hätte.
Gegenwärtig können wir jedoch nicht beurteilen, welche besonderen Ziele Ankara mit dem Beitritt zu anderen regionalen Organisationen verfolgt. Wenn wir zum Beispiel die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) erwähnen, ein chinesisches Projekt, wäre der Beitritt der Türkei durchaus als Erfolg für das Land zu werten, insbesondere mit dem Beitritt des Iran zu dieser Organisation. Auch Belarus etwa, das auf russischer Seite im russisch – ukrainischen Konflikt mitwirkt, ist daran interessiert, die Türkei in die SOZ integrieren. Was die BRICS – Staaten betrifft, so habe ich, um ehrlich zu sein, erhebliche Zweifel, dass die Türkei dieser Organisation als ständiges Mitglied beitreten würde. Möglich wäre eventuell eine Ad – hoc – Partnerschaft, insbesondere im finanziellen Kontext.
Gleichzeitig ist der künftige Beitritt der Türkei zur SOZ, wie bereits erwähnt, ein starkes Signal an die EU aber auch an die USA. Es gibt eine ganze Reihe heikler Fragen, vor allem auf bilateraler Ebene zwischen den USA und der Türkei, aber auch in der Türkei – Russland Frage, wo es nicht nur militärische, sondern auch wirtschaftliche und energiepolitische Fragen zu klären gibt. So baut beispielsweise das russische Unternehmen Rosatom weiterhin das Kernkraftwerk Akkuyu im Süden der Türkei. Daher ist es offensichtlich, dass es Kontroversen in der bilateralen Beziehungen zwischen den USA und der Türkei gibt. Gleichzeitig ist die Türkei ein wichtiges NATO – Mitglied und wird von Washington als einer der wichtigsten Verbündeten innerhalb dieses Blocks angesehen.
Von meinem Standpunkt aus betrachte ich daher den wahrscheinlichen Beitritt der Türkei zur SOZ als einen positiven Schritt für Ankara. Allerdings verfolgt die Türkei auch Eigeninteressen durch eigenen Initiativen, wie etwa der Organisation der Turkstaaten (OTS), welcher die zentralasiatischen Staaten zusammen mit der SOZ angehören. Speziell nach der russischen Invasion in der Ukraine gibt es unter den zentralasiatischen Staaten ein Verständnis, dass Russland kein so mächtiges Land mehr ist und auch eine Bedrohung für ihre Unabhängigkeit und territoriale Integrität darstellen könnte. Daher würden sich diese Länder vermehrt auf andere starke Partner, wie etwa China und bis zu einem gewissen Grad auch die Türkei fokusieren, um die Beziehungen zu diesen Ländern zu stärken. Der Beitritt zur SOZ stellt also für die Türkei eine glückliche Fügung dar und wird ihr Ansehen verbessern.
Was Syrien betrifft: Damaskus ist wieder in die Arabische Liga integriert. Wie würden Sie die Mechanismen und die Logik bewerten, die zu dieser Entscheidung führten, und wie schätzen sie die Auswirkungen dessen ein?
Um ehrlich zu sein, ist das eine komplizierte Frage. Nach meiner Leseart dieser Entwicklung hat die Wiedereingliederung Syriens in die Arabische Liga gerade erst begonnen und ist ein Prozess, aber ich frage mich, wie und wo das Königreich Saudi – Arabien als Gastland das Endziel dieser Entwicklung sieht. Die Anwesenheit von Baschar al – Assad während der Konferenz war ein Versuch, eine Lösung für Syrien zu finden. Aber auch die arabischen Staatschefs können die Realität nicht länger leugnen, dass es Assad seit 2011 gelungen ist, an der Macht zu bleiben und eine Lösung gefunden werden sollte, ohne die Situation weiter zu verschlechtern. Hinzu kommt die schwierige Frage der syrischen Flüchtlinge, die nicht nur für Ankara, sondern für mehrere europäische Staaten eine wichtige Frage darstellt. Insgesamt ist es eine gute Gelegenheit für die arabischen Nationen und insbesondere für Saudi – Arabien, bei der Lösung dieses Problems eine Führungsrolle zu übernehmen.
Aus der Perspektive der Normalisierung würde ich sagen, dass es ein Triumph des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, ist, der diese Veranstaltung organisierte. Bin Salmans Einsatz und sein Wort waren in Bezug auf diesen Schritt sehr wichtig. Ohne seine Zustimmung und Unterstützung gäbe es einen solchen Schritt zur Wiedereingliederung Syriens nicht. Natürlich scheint es, dass Bin Salman als regionaler Führer versucht, eine Lösung nicht nur für die Syrien – Krise, sondern auch für die Palästina – Frage zu finden. Ich persönlich glaube, dass Riad nach der Normalisierung zwischen dem Königreich Saudi – Arabien und dem Iran seine Position nicht nur als regionaler Führer, sondern auch als Weltmacht verbessern wird. In dieser Hinsicht ist die Einladung des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auch ein Beweis für den Willen von Riads, eine breitere Rolle in der Welt zu spielen.
Es ist auch zu bedenken, dass die Dynamik hinter der Wiedereingliederung Syriens die Idee beinhalten könnte, die Abhängigkeit von Damaskus vom Iran und Russland in Bezug auf die Sicherheit und die politische Dimension zu verringern. Der Erfolg dieser Wiedereingliederung bleibt jedoch aufgrund einiger Meinungsverschiedenheiten zwischen den arabischen Führern bezüglich der Erscheinung Assads auf dem Gipfel weiter zu beobachten.
Die russische Invasion in der Ukraine hat eine neue Realität im euro – atlantischen Raum geschaffen. Doch wie hat sie die Beziehungen der Hauptakteure zu Russland, der Ukraine und dem Westen beeinflusst?
Ich würde sagen, dass ich mich sehr gefreut habe, als ich die Nachricht von der Teilnahme von Präsident Selenskyj an dem Gipfel und dem Besuch des saudischen Außenministers in der Ukraine gesehen habe, vor allem nachdem dies zum ersten Mal seit der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Kiew und Riad der Fall war. Es ist auch ein Zeichen dafür, dass die Ukraine in dieser Richtung aktiver wird und dass auch die arabischen Länder die Ukraine bemerkt haben und paradoxerweise die russische Invasion in der Ukraine zu einem Katalysator für die Idee einer Intensivierung der Beziehungen wurde.
Ich muss jedoch erwähnen, dass die russische Propaganda und Aktivitäten in der Region eine Rolle spielen, ebenso wie die Konzentration der Ukraine auf europäische Angelegenheiten seit der ersten Welle der russischen Aggression im Jahr 2014. Die irakische Invasion in Kuwait hingegen findet in der arabischen Welt Widerhall und zieht Parallelen zur russischen Invasion in der Ukraine. Diese Parallele trägt dazu bei, die Position der Ukraine zu klären und den arabischen Ländern das wahre Wesen des Krieges Russlands gegen die Ukraine als neokolonialen Versuch zu erklären, das russische Imperium wiederherzustellen. Das imperialistische Denken der russischen Führung hat der globalen Stabilität geschadet.
Was Russland betrifft, so ist es schwierig, entscheidende Veränderungen in seinen Beziehungen zur Region zu erkennen. Eine der Veränderungen war die Vertiefung der Beziehungen zwischen Moskau und Teheran, nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im sicherheitspolitischen Bereich. Dies stellt eine Sorge für die arabischen Staaten dar, vor allem wegen der Konsequenzen, die ich bereits erwähnt habe, insbesondere im Hinblick auf das iranische Atomprogramm. Einn nuklear fähiger Iran ist eine Katastrophe für die Region.
Die russische Diplomatie war jedoch sehr aktiv bei dem Versuch, in der Region Unterstützung für ihren Krieg gegen die Ukraine zu finden, aber abgesehen von Syrien und dem Iran gab es keinen Zuspruch auf die russische Anfrage.
Angesichts der Tatsache, dass die MENA – Region oft mit dem Globalen Süden in Verbindung gebracht wird, stellt sich die Frage, wie Sie die Zukunft dieser Region wahrnehmen können und wer in den kommenden Jahren die Hauptakteure sein werden und warum?
Zunächst einmal mag ich den Begriff Globaler Süden nicht. Für mich ist die MENA – Region ein anderer Raum als beispielsweise Indien, der afrikanische Kontinent oder Lateinamerika. Wir müssen differenzieren. Daher möchte ich diesen Begriff vermeiden, da er keinen Raum für einen relativen Ansatz der Nord – Süd – Konfrontation lässt.
Apropos Perspektive: Der Hauptakteur wird Saudi – Arabien sein, und ich glaube, dass alle globalen Projekte von Bin Salman umgesetzt werden. Wenn es um die externen Akteure geht, würde ich sagen, dass der Hauptakteur China sein könnte. Und das liegt zum Teil daran, dass es in der Region eine gewisse Skepsis gegenüber den USA und generell den westlichen Ländern gibt. Darüber hinaus ist China wirtschaftlich ein wichtiger Partner.
Auch Russland wird auch ein Akteur bleiben, ob es uns gefällt oder nicht, denn trotz der Verringerung seiner Macht und seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten ist es immer noch stark genug, um seine Macht zu projizieren und der Region Themen vorzuschlagen. Aber sie werden nicht die Schlüsselrolle spielen. Zwei Hauptakteure – die USA und China – werden in der Region gegeneinander antreten. Aber wir müssen auch die US – Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 abwarten, um zu verstehen, wie sich Washingtons Politik gegenüber der Region entwickeln könnte.
Aber höchstwahrscheinlich werden zwei Schlüsselthemen die außenpolitischen Prioritäten der USA dominieren – die Beziehungen zu Israel und der Umgang mit dem Iran.
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