Europäische Sicherheitsbehörden verzeichnen ein erneutes Erstarken islamistischer Tendenzen. Dabei spielen die sozialen Medien zur Ideologisierung eine wachsende Rolle. Polizei und Justiz müssen daher ihre Strategien zur Bekämpfung von islamistischen Terroristen neu justieren.
Gerade die französische und deutsche Polizei haben mittlerweile ganze Stäbe aufgebaut, die auf Plattformen wie Instagram nach möglichen Terrorgefahren Ausschau halten. Erst jüngst wurde in Deutschland ein junger Mann mit russischer Staatsangehörigkeit verhaftet, der Kontakt mit einem afghanischen Führer des sogenannten IS aufgenommen hatte. Er soll zudem Hinrichtungsvideos übersetzt und in Chats verbreitet, Bauanleitungen für Sprengsätze gepostet, zur Ausreise nach Afghanistan aufgerufen und einen jungen Deutsch-Kosovaren unterstützt haben, einen Anschlag vorzubereiten. Ermittler verhafteten beide Heranwachsende, die Staatsanwaltschaft übernahm den Fall.
In Hamburg und Bayern nahmen Ermittler zwei syrische Brüder fest, die einen Anschlag auf eine noch nicht näher benannte schwedische Kirche anstrebten. Im Jahr zuvor plante ein 21-jähriger Deutsch-Marokkaner ein Attentat zum 9/11-Jahrestag. Er wurde zu langer Haft verurteilt. Der Hamburger Verfassungsschutz stellte heraus, dass die islamistische Szene größer wird – im Gegensatz zur links- und rechtsextremen Szene. 1.755 Personen werden ihr laut dem Jahresbericht des deutschen Geheimdienstes mittlerweile zugeordnet. Im Jahr zuvor waren es 1650. Bislang kam der harte Kern der Jihadisten in Europa, die insbesondere den IS unterstützten, aus dem salafistischen Spektrum. Doch seit der Niederlage des IS in Syrien und dem Irak geht die Bedeutung dieser Gruppe in der Szene zurück. Wer aber sind die neuen Hardliner, die Treiber der Szene? Und wie gefährlich sind sie?
Der IS kann trotz der Entwicklung im Nahen Osten längst nicht abgeschrieben werden, es bestehen weiterhin gewisse Strukturen der Organisation vor Ort, aber auch innerhalb Europas. Insbesondere die „IS Provinz Khorasan“ (ISPK) in Afghanistan spielt dabei eine zentrale Rolle. Islamistische Gruppierungen wie der IS und Al-Qaida und deren regionale Ableger verbreiteten weltweit Propaganda, die offensichtlich auch Zielgruppen im Westen erreichen. „Wenn jemand aus der salafistischen Szene aussteigt, heißt das nicht, dass er sich gleichzeitig vom Islamismus löst“, betont ein deutscher Verfassungsschutz-Chef. Er verweist auf jüngste Durchsuchungen, die dieses Spektrum betroffen hätten. Sieben Menschen wurden allein im Mai diesen Jahres landesweit festgenommen, weil sie Spenden gesammelt und an den IS weitergeleitet haben sollen.
Es gibt aber auch andere islamische Gruppierungen, die wachsen. Darunter insbesondere solche, die der mittlerweile in Deutschland verbotenen Hizb ut-Tahrir (HuT) nahe stehen. Gruppen, die gesellschaftlich relevante Themen oder „tatsächliche oder vermeintliche Diskriminierungen von Muslimen“, etwa das Thema Kopftuch-Verbot oder Koran-Verbrennung missbrauchten, „um mit der überaus großen Mehrheit der Muslime, die natürlich demokratisch gesinnt sind, in Kontakt zu kommen“.
Gerade im Wachstum genau dieser Gruppen sehen Experten eine besonders gefährliche Entwicklung. Die klassische salafistische Szene ist derzeit mit sich selbst beschäftigt, so eine These. Nicht nur durch die IS-Niederlage, auch durch die Zerschlagung der europaweiten Netzwerke und die Verhinderung von Koran-Verteilungs-Aktionen sei ein Vakuum entstanden, das aber nicht von liberalen, demokratischen, moderaten Kräften besetzt wurde, sondern von den HuT-Anhängern, von Gruppen wie „Muslim Interaktiv“, „Generation Islam“ oder „Realität Islam“. Gruppen, die im Internet sehr aktiv sind und die die europäischen Staatsschützer nicht zum Salafismus rechnen, ist ein Fehler. Es ist keine klassische Ausprägung des Salafismus, sie haben nicht direkt mit dem IS zu tun. Aber ihre Ideologie ist nicht weniger salafistisch.
Kritiker meinen, dass Sicherheitsbehörden noch nicht verstanden hätten, wie mächtig Gruppen wie „Muslim Interaktiv“ sind, wie viel Einfluss sie besonders bei Jugendlichen haben. Deren Rekrutierungskampagnen in den sozialen Medien sind sehr erfolgreich, sie verbreiten ihre Inhalte, die problematisch, salafistisch und radikal sind, über diese Kanäle an die Instagram-Generation. So erreichen sie ihre eigentliche Zielgruppe besser, als es den klassischen Salafisten je gelungen ist.
Was wir in Europa noch nicht verstanden haben ist, dass sich Islamismus neuformiert hat. Eine enge Kommunikation mit dem Mutterschiff Islamischer Staat gibt es nicht mehr. „Gerade in Europa haben wir es heute mit Einzeltätern zu tun, die sich online radikalisieren, die unsere Gesellschaft verachten, die teilweise psychisch labil sind, die morgens zur Arbeit gehen und nachmittags mit Messer auf Menschen losgehen“, sagt ein französischer Sicherheitsexperte. Dass das nicht verstanden wurde, sehe man nach jedem Anschlag, wenn es heißt: Ein terroristischer Hintergrund konnte nicht bestätigt werden. „Und warum? Weil es keine Bekennervideos gibt, weil sie keine Kontakte finden. Aber wenn man ein bisschen bohrt, erkennt man, dass der Täter doch islamistische Bezüge hat, weil er entsprechende Schriften konsumiert, Gruppen geliked oder Meinungen geteilt hat. Vor und bei zahlreichen Ermittlungsverfahren, Durchsuchungen und der Durchsetzung von Haftbefehlen in den vergangenen Jahren war die Internetaufklärung ein zentraler Baustein für die Erkenntnisgewinnung“, sagt er. Eine Arbeit, die weit im Vorfeld von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung beginne. Es müssen daher neue Einheiten innerhalb der Geheimdienste aufgebaut werden, mit denen auf die neue Internetmacht der Islamisten reagiert werden soll. Diese Abteilungen verfügen dann über alle Fähigkeiten und Ressourcen, um islamistische Aktivitäten im Web detektieren zu können und würde auch die Beobachtung konspirativer Internet-Kommunikation gewaltorientierter Islamisten einschließen.
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