Unter den in Europa lebenden Türken bekam Präsident Erdogan und seine Regierungspartei AKP mehr Unterstützung als in der Türkei. Dabei waren die Wahlen ein Referendum mit folgenden Optionen: Rückkehr zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit – oder endgültiges Abdriften in eine national-islamistisch gefärbte, kleptokratische Diktatur. Das Ergebnis ist bekannt.
Im Frühling 2017 erlebte die Türkei das Referendum, mit dem Erdogans Alleinherrschaft in den Verfassungsrang erhoben wurde. Schon damals betrieb Erdogan nicht zuletzt durch das Schüren antiwestlicher Ressentiments Wahlkampf. Es reiste die damalige Familienministerin Fatma Sayan Kaya guerillaartig durch Westeuropa, unter anderem auch in die Niederlande, obwohl die dortigen Behörden darum gebeten hatten, vor der bevorstehenden Parlamentswahl auf derlei Auftritte zu verzichten. Ein paar Meter vor dem türkischen Konsulat in Rotterdam wird der Konvoi von der Polizei gestoppt, es kommt zu Tumulten und einem diplomatischen Eklat, mit dem Erdogan den Rest seiner Kampagne bestreitet. Bei diesem Tumult entstand ein Video, welches heute noch im Internet oft betrachtet wird: Erdogan-Anhänger sind zur Unterstützung der Familienministerin vors Konsulat gezogen und werden von der Polizei bedrängt: „Die werden uns in den Knast werfen“, ruft einer aufgeregt. Ein anderer antwortet harsch: „Quatsch, Knast, ist das hier die Türkei oder was?“
Ein seltenes und fast komisches Dokument, das zeigt: Viele dieser Leute, die es in der Türkei mit Erdogan halten, wissen insgeheim sehr wohl um den Unterschied zwischen Demokratie und Autokratie.Es ist ihnen nur egal, zumal in der Türkei einer herrscht, den sie für den Ihrigen halten. Auch die katastrophale Wirtschaftslage, die Erdogan zu verantworten hat, juckt sie nicht; das macht nur den Urlaub billiger.
Es ist natürlich nicht die Mehrheit der türkischen Mitbürger in Europa, die sich für den Nationalismus und Islamismus Erdogan’scher Prägung entschieden haben. Die Ergebnisse aus den eher konservativen türkischen Communities in Europa sind zwar eindeutig, in Österreich stimmten 73,7 Prozent für Erdogan, in Deutschland 67,4 Prozent, in Frankreich 66,6 Prozent. In anderen europäischen Staaten schaut es aber anders aus: Die wahlberechtigten Türken in Schweden wählten mit 53 Prozent für Kilicgaroglu, in Großbritannien waren es 80,4 Prozent, in Italien 74,1 Prozent, in Spanien 71,1 Prozent, in der Schweiz 57,2 Prozent.
Auch sprechen wir hier nur von den abgegebenen Stimmen, es ist bei weitem nicht die „Türkische Community“ als Ganzes, die den Sultan des 21. Jahrhunderts wählten: In Deutschland leben ca. 3 Millionen türkisch-stämmige Mitbürger, davon sind 1,5 Millionen wahlberechtigt. Etwa die Hälfte von ihnen hat an den Wahlen teilgenommen, davon stimmten 67,4 Prozent für Erdogan. Im Ergebnis haben also bloß 17 Prozent aller in Deutschland lebender Türken für ihn votiert, die Mehrheit war entweder nicht wahlberechtigt, weil sie nicht mehr die türkische Staatsangehörigkeit besitzen, oder aber aus unterschiedlichen Gründen kein Interesse an der Wahl hatten. Aber sie waren nicht sichtbar an diesem Wahlabend, sie haben die Bühne der Minderheit überlassen. Noch einmal der deutsche Minister Özdemir: „Dies sind keine Feiern harmloser Anhänger eines autoritären Politikers, es ist vielmehr eine Absage an unsere pluralistische Demokratie und ein Zeugnis unseres Scheiterns unter ihnen“.
Erdogan erzielte in Berlin mit 50,8 Prozent sein deutschlandweit schlechtestes Ergebnis, während er im Ruhrgebiet bei 78,7 Prozent landete. Andererseits muss man annehmen, dass Erdogan auch unter jenen Deutschtürken beliebt ist, die keine türkische Staatsbürgerschaft mehr besitzen. Für die Wahlentscheidung sind weniger Erfahrungen in der Diaspora ausschlaggebend als die Milieu- und Identitätszugehörigkeiten in der Türkei.
Ein großer Teil der einstigen Gastarbeiter stammt aus den Milieus, die auch in der Türkei Erdogan wählen: Sie sind weniger gebildet, ärmer, frommer. Natürlich sind nicht alle AKP-Wähler ungebildet – wie auch nicht alle arm sind.
Darum ist die in der Integrationsindustrie beliebte Behauptung, Rassismus und „Islamophobie“ würden die Leute Erdogan in die Arme treiben, nicht haltbar. Und selbst da, wo die Erdogan-Fans sagen, sie würden sich hierzulande diskriminiert fühlen, lohnt es sich, genauer hinzusehen. So waren in Deutschland lange Zeit SPD und Grüne in der Gunst der in Deutschland wahlberechtigten Deutschtürken weit vorne. Die SPD ist dies weiterhin, die CDU hat inzwischen deutlich aufgeholt, die Grünen stark verloren. Der Grund: Viele nationalistisch gesinnte Deutschtürken nehmen den Grünen – und namentlich Cem Özdemir, in ihren Augen ein „Vaterlandsverräter“ – die Bundestagsresolution zum Völkermord an den Armeniern übel.
Welche Mittel gibt es nun in Westeuropa, der identitätsstiftenden Propaganda Erdogans eine Alternative aufzuzeigen? Es war und ist ein Fehler, die von Ankara gesteuerten türkischen Verbände zu hofieren und ihnen zu erlauben, als Moscheen getarnte AKP-Wahlkampfbüros zu unterhalten. Es muss jede Zusammenarbeit mit den Religionsbehörden aufhören, die unter der Kontrolle der Diyanet in Ankara stehen, die Verbände unter Beobachtung gestellt und die Imame, die als Beamte des türkischen Staates in Europa tätig sind, ausgewiesen werden.
Man sollte zudem EU-weit Wahlen in Konsulaten untersagen. Das wäre nicht undemokratisch, im Gegenteil. Die Französische Revolution begann mit dem Gedanken: „Ich zahle Steuern, also möchte ich darüber mitentscheiden, wofür meine Steuern benutzt werden.“ Dass Leute, die vor einem halben Jahrhundert ihre Heimat verlassen haben oder in dritter, vierter Generation in Westeuropa leben über die Geschicke der Türkei mitentscheiden dürfen, ohne die Konsequenzen ihrer Wahl spüren zu müssen, widerspricht dem Demokratiegedanken. Es gibt auch kein internationales Abkommen, das Staaten erlaubt, auf fremdem Territorium einen hoheitsrechtlichen Akt wie eine Wahl durchzuführen.
Auf Ergebnisse in der Türkei hätte dies nur eine geringe Auswirkung (ohne die Stimmen der Diaspora wäre Erdogans Ergebnis nur um 0,3 Prozentpunkte schlechter ausgefallen), aber auch das wäre ein Zeichen der Solidarität – und der Grenzsetzung.
Und es sind auch die Medien, die unter stärkerer Beobachtung gestellt werden sollten: In Zeiten von Satellitenfernsehen und Internet ist die Dauerberieselung durch türkische Propagandasender zwar nicht zu verhindern, zumal die Pressefreiheit das Recht auf allerlei Unsinn umfasst. Aber es gibt Grenzen! Zum Beispiel Volksverhetzung, die Erdogan und seine Medien im Wahlkampf etwa gegen die kurdische Minderheit im Land, gegen syrische Flüchtlinge oder die LGBTQ+-Community betrieben haben und vermutlich weiter betreiben werden, antisemitische Tiraden oder aber das unkommentierte Abspielen von Reden islamistischer Hassprediger aus dem Umfeld der Muslimbruderschaft.
Weder darf man, wie im identitätslinken Milieu beliebt, ständig und ausschließlich die Fehler in der Mehrheitsgesellschaft suchen, noch, wie es oft geschehen ist bei deutschen und österreichischen Politikern, sich anbiedern, um Türken für sich zu gewinnen.
Richtig hingegen ist das Bekenntnis zur Einwanderungsgesellschaft – und eine Haltung, die ein niederländischer Politiker 2015 nach dem dschihadistischen Anschlag auf „Charlie Hebdo“ so formulierte: „Wenn ihr die Freiheit nicht wollt, packt um Himmels willen eure Koffer und geht!“
Der Urheber dieser Worte war nicht der Rechtspopulist Geert Wilders, sondern der sozialdemokratische Bürgermeister von Rotterdam, der seinerzeit den Konvoi der Ministerin stoppen ließ. Sein Name: Ahmed Aboutaleb, Niederländer mit marokkanischer Abstammung, der 2008 als erster Muslim an die Spitze einer westeuropäischen Großstadt gewählt wurde.
Ein Rechtsstaat kann niemanden abschieben, der sein ganzes Leben im Land verbracht hat, egal ob diese Personen die Staatsbürgerschaft besitzen oder nicht. Aber hofieren sollte die offene Gesellschaft ihre Feinde nicht – ganz gleich, ob es türkische sind oder russische.
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