Irgendwann nehmen einem die Wähler die ständige Vertröstung auf eine „europäische Lösung“ der Migrationsfrage nicht mehr ab. Irgendwann wird das Problem auf die klassische Manier gelöst, nämlich mit nationalem Grenzschutz. Und dann ist das offene Schengen-Europa nur noch eine halbe Seite im Geschichtsbuch.
Die EU-Innenminister haben auf ihrem Rat in Brüssel über die Begrenzung der Migration verhandelt, es ging um einen der zentralen Pfeiler des geplanten EU-Asylsystems: Die Verteilung vieler Migranten aus den Ankunftsstaaten im Süden der Gemeinschaft auf möglichst viele andere Mitgliedsländer. An der mangelnden Bereitschaft für eine solche Aufnahme waren bisher alle Versuche, ein Verteilungssystem hinzubekommen – und damit auch ein neues EU-Asylsystem – gescheitert.
In der Vergangenheit waren Vorstöße in Sachen Verteilung seitens der EU-Kommission sowie der aufnahmewilligen Staaten immer gescheitert. 2016 hatte die EU-Kommission einen Reformvorschlag vorgelegt, nach dem Staaten pro nicht aufgenommenem Asylbewerber 250.000 Euro an den EU-Mitgliedstaat zahlen sollten, der ihn stattdessen unterbringt. Mit diesem „Fairness-Mechanismus“ wollte man dafür sorgen, dass die Belastung für die Hauptankunftsländer nicht zu groß wird.
Beim derzeitigen Versuch, eine Migrationseinigung zu finden, geht die Kommission nun sehr schlau und behutsam vor und schreibt nur 22.000 Euro auf das Preisschild. Wenn die Verteilungsgegner im Osten Europas jetzt nicht zugreifen, was sich schon wieder abzeichnet, dann war es das wohl mit der „europäischen Lösung“.
Die aktuellen Verhandlungen über das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS), die bis zum kommenden Februar abgeschlossen sein sollen, kommen nun in eine entscheidende Phase, in der ein abermaliges Scheitern droht. Denn im Wissen darum, wie brisant die Verteilungsfrage ist, wurde seitens der EU-Verhandler lange eisern dazu geschwiegen, in welchem Umfang die nicht aufnahmewilligen Staaten sich an den Kosten beteiligen sollen: Wer nicht aufnehmen möchte, muss einen Ausgleich über Sach- oder Geldleistungen erbringen.
Nun wurde bekannt, dass nach den Vorstellungen der EU-Kommission dieser Ausgleich bei ungefähr 22.000 Euro pro nicht aufgenommenem Flüchtling liegen soll. Zunächst berichtete darüber das EU-Politikportal Euractiv, sowie polnische und italienische Medien. Die Kommission dementiert diese Größenordnung von 22.000 Euro auf Anfragen nicht, man könne sie aber auch nicht bestätigen, weil man Inhalte der Verhandlungen zwischen den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten nicht kommentiere.
Ein Sprecher bestätigte aber, dass die Kommission in den Vorbereitungstreffen für den Rat der Innenminister zur Migration gegenüber dem EU-Ausschuss der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten ihre Position zur Verteilung betont habe. „Solidarität muss gewährleistet sein. Deshalb befürwortet die Kommission ein System der verpflichtenden Solidarität.“ Diese könne über die Aufnahme von umverteilten Migranten, durch „operative Unterstützung“ der überlasteten Staaten oder durch Geldzahlungen erfolgen.
Der erste Vorbote dafür, dass auch der aktuelle Anlauf für die seit vielen Jahren angekündigte GEAS-Reform als Rohrkrepierer enden könnte, weil die Verteilung am Ende nicht akzeptiert wird, ist die Reaktion Polens auf den 22.000-Euro-Vorschlag. Der an den Verhandlungen beteiligte EU-Botschafter des osteuropäischen Landes, Andrzej Sadoś sagte der staatlichen polnischen Nachrichtenagentur PAP, Warschau werde weder einer verpflichtenden Verteilung, noch einem verpflichtenden finanziellen Beitrag zustimmen. Eine „Strafe“ für die verweigerte Aufnahme von zur Verteilung vorgesehenen Flüchtlingen lehne er ab.
Während Polen und andere nicht aufnahmewillige Staaten Ausgleichszahlungen in der von der EU-Kommission angepeilten Größenordnung von 22.000 Euro für überzogen halten, dürften die Befürworter der Verteilung, also vor allem die Mittelmeerstaaten, diese Größenordnung für zu gering erachten. Denn sie befürchten, dass viele Staaten sich am Ende über finanzielle Leistungen der Aufnahme entziehen und dass sie selbst weiterhin für sehr viele Migranten zuständig bleiben.
Auch im deutschen Parlament stößt die neue Entwicklung der Reform auf Kritik. Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sagte: „22.000 Euro sind ein echter Schnäppchenpreis. Das entspricht in etwa ein bis zwei Jahren Sozialleistungen in Deutschland.“ Es brauche auf EU-Ebene einen verpflichtenden Mechanismus mit einer gewissen Grundverteilung an Flüchtlingen. „Kein Land darf sich komplett freikaufen dürfen. Denn den Flüchtling, von dem sich ein EU-Land freikauft, muss ein anderes Land zusätzlich aufnehmen.“
Wenn die Verteilungsgegner im Osten Europas jetzt nicht zugreifen, was sich schon wieder abzeichnet, dann war es das wohl mit der „europäischen Lösung“. Irgendwann nehmen einem die Wähler die ständige Vertröstung auf eine „europäische Lösung“ der Migrationsfrage nicht mehr ab. Auch die Kritiker einer neuen, restriktiven Asylpolitik sehen diese „Re-Nationalisierung“ als große Gefahr für den europäischen Gedanken. Politiker wie die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock stellt sich nun auch hinter den Reformplan der EU-Kommission, nach dem künftig Schutzsuchende mit geringer Anerkennungschance bereits in Zentren an den EU-Außengrenzen ihr Verfahren durchlaufen sollen. Der Kommissionsvorschlag, so die deutsche Politikerin, sei die einzige Chance, auf absehbare Zeit zu einem „geordneten und humanen Verteilungsverfahren“ zu kommen. Wenn dies nicht gelinge, werde „ein EU-Land nach dem anderen“ die Grenzen hochrüsten. Der Plan funktioniert aber nur dann, wenn die in den Zentren Abgelehnten in relevanter Zahl auch abgeschoben werden und wenn die Ankömmlinge mit hoher Schutzchance auf viele Staaten verteilt werden.
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