Die Verhandlungen mit der Türkei über den NATO-Beitritt Schwedens waren schon vorher kompliziert genug. Nun vermutet die schwedische Regierung, dass neben den Forderungen des türkischen Präsidenten Erdogan noch ein russischer Einfluss hinzukommt.
Das sagte der schwedische Minister für Zivilverteidigung, Carl-Oskar Bohlin, bei einer Pressekonferenz in Stockholm. Es sollen staatliche und halbstaatliche Akteure, unter anderem aus Russland, dahinterstecken. So werde absichtlich der falsche Eindruck verbreitet, Schweden sei als Staat für die Koranverbrennungen verantwortlich. Dabei gingen die Aktionen von Einzelpersonen aus, die oft nur eine sehr schwache Verbindung zu Schweden hätten, sagte der Minister. „Wir sehen, wie diese Ereignisse auf eine komplett inkorrekte Weise im Informationsumfeld wiedergegeben werden, mit dem Ziel, und manchmal dem direkten Aufruf, Schweden und schwedischen Interessen zu schaden“, sagte Bohlin.
An den Einflusskampagnen seien sowohl staatliche Akteure als auch religiöse Anführer beteiligt, die schwedische Medien genau verfolgten, sagte der Kommunikationschef der Behörde für psychologische Verteidigung, Mikael Östlund, bei der Pressekonferenz. „Sie sind gut darin, beispielsweise Koranschändungen direkt auszunutzen und direkt zu verbreiten. Sie sind auch gut darin, das Informationsumfeld zu verfolgen und Schlagzeilen über die Erlaubnis zur Verbrennung des Korans direkt wiederzugeben“, sagte Östlund.
Russland nutze diese Gelegenheiten aus, um seine Agenda in den von Moskau kontrollierten Medien und TV-Kanälen zu befördern. Das ziele darauf ab, den Westen zu spalten und eine erhöhte Anspannung und Polarisierung in Schweden zu erzeugen sowie einen Nato-Beitritt des Landes zu erschweren. Seit einer Koranverbrennung Ende Juni seien mindestens eine Million Publikationen zu Schweden registriert worden, so Östlund weiter. Der Vorfall im Juni war nicht die erste Koranschändung in Schweden dieses Jahr.
Hinzu kommt nun noch eine vermeintliche Schmiergeldaffäre, in der auch die Familie des türkischen Präsidenten verwickelt sein soll. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, das schwedisch-amerikanische Unternehmen Dignita Systems würde durch Millionenzahlungen an zwei Institute, in deren Vorstand der türkische Präsidentensohn Bilal Erdogan sitzt, Einfluss auf die türkische Regierung zu nehmen. So habe das Unternehmen ihre Marktchancen in der Türkei verbessern wollen, berichtet Reuters unter Berufung auf Firmendokumente, E-Mails und einer Klageschrift. Letztere werde derzeit von Staatsanwälten in Schweden und den Vereinigten Staaten geprüft. Ein förmliches Ermittlungsverfahren sei bisher nicht eingeleitet worden. Interessant ist auch, dass die beteiligten Mitarbeiter von Dignita Systems offenbar der Meinung waren, dass der Präsidentensohn der richtige Adressat für ihre Bemühungen war. Auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung wirft Fragen auf.
In Stockholm ist angesichts der Affäre von „Sprengstoff“ die Rede. Die Angelegenheit sei aus schwedischer Sicht sehr unangenehm und könnte die ohnehin schwierige Annäherung zusätzlich erschweren. Dabei hatte es zuletzt so ausgesehen, als komme Bewegung in die Sache. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg teilte zunächst mit, noch vor dem Gipfeltreffen im Juli werde die NATO bei einem mit ranghohen Vertretern besetzten Treffen in Brüssel den Beitritt Schwedens zu dem Militärbündnis voranbringen. Dafür kämen Außenminister, Geheimdienstchefs und nationale Sicherheitsberater zusammen. Auch Erdogan habe dem Treffen zugestimmt. Zu konkreteren Lösungen kam es aber weder beim Brüsseler Treffen, noch beim NATO-Gipfel in der litauischen Hauptstadt Vilnius.
Die Ernüchterung in Schweden über den Kurs Ankaras ist groß. Schweden hat nach Jahrhunderten seine Bündnisfreiheit aufgegeben. Anfang April trat erst Finnland der NATO bei, Schweden muss weiter warten, ist nun nicht mehr neutral, aber auch noch nicht geschützt. In Schwedens Presse wurde zuletzt kommentiert, man sei Erdogan auf dem „Basar“ um die Mitgliedschaft schon zu weit entgegengekommen, die Sache liege nicht mehr in der eigenen Hand. Die Regierung wiederum beschränkte sich auf Verweise darauf, dass man die im trilateralen Memorandum mit der Türkei und Finnland vereinbarten Punkte erfüllt habe: So wurden Waffenexporte in die Türkei wieder zugelassen, Auslieferungen nach Ankara geprüft und zudem die Terrorgesetzgebung verschärft. All das reicht der Türkei bisher nicht.
Immer wieder wurde der Prozess torpediert: durch eine aufgeknüpfte Erdogan-Puppe vor Stockholms Rathaus, durch eine Koranverbrennung und nachfolgende Urteile, die Verbote von Koranverbrennungen durch die Polizei aufhoben, zuletzt auch durch einen Vorfall Anfang Juni, als nach dem Inkrafttreten des Antiterrorgesetzes Demonstranten in Stockholm und Göteborg PKK-Flaggen schwenkten.
In Schweden ist das ebenso erlaubt wie das Schwenken von IS-Flaggen; das Land hat weltweit wohl die weitreichendsten Rechte im Bereich der Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Hier kann es aus schwedischer Sicht keine Annäherung an Ankara geben. „Es wäre politischer Selbstmord für eine schwedische Regierung, die Rede- und Versammlungsfreiheit einzuschränken, um einem autokratischen Präsidenten wie Erdogan entgegenzukommen“, sagt ein schwedischer Kommentator. Aus seiner Sicht kann der NATO-Prozess von Stockholm kaum mehr beeinflusst werden.
Nach der türkischen Präsidentenwahl am 28. Mai hatten die Vereinigten Staaten und andere NATO-Mitglieder den Druck auf Ankara erhöht. Im Wahlkampf hatte Erdogan das Thema genutzt, um sich als starker Führer zu inszenieren, der dem Westen die Stirn bietet. Bei den Wählern kam das gut an. Ursprünglich waren viele Beobachter davon ausgegangen, dass der Präsident dem Beitritt Schwedens nach seiner Wiederwahl leichter zustimmen könnte. Nun aber bezeichnete Erdogan in einem Telefonat mit dem politischen NATO-Chef Stoltenberg aber die veränderte schwedische Terrorgesetzgebung als „bedeutungslos“, solange Unterstützer der auch von der EU als Terrororganisation eingestuften PKK in dem Land Demonstrationen organisieren dürften. Erdogan scheint entschlossen, weitere Zugeständnisse zu erreichen. Zugleich bringt er sich damit in eine Lage, aus der es zunehmend schwer wird, einen gesichtswahrenden Ausweg zu finden.
Von Schweden verlangt die Türkei die Auslieferung von PKK-Mitgliedern. Zwar hatte der Oberste Gerichtshof in Stockholm kürzlich der Auslieferung eines mutmaßlichen Drogenkriminellen zugestimmt, der Unterstützung für die PKK geäußert hat. Doch sein Name stand offenbar nicht auf der Liste der Auszuliefernden, die Ankara Stockholm präsentiert hatte.
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