Viele glaubten, die EU hätte nach dem Blutbad der islamistischen Hamas in Israel schnell reagiert: Noch in der Terrornacht leuchtete eine riesige israelische Flagge auf der Fassade des Gebäudes der EU-Kommission. Es schien so, als stehe die Europäische Union geschlossen „an der Seite Israels“, wie die Chefin der Kommission, Ursula von der Leyen, bemerkte. Einhellig hatten die Mitgliedstaaten die Angriffe der Hamas verurteilt und dem angegriffenen Land das Recht zugesprochen, sich dagegen zu verteidigen. Doch die Eintracht verwandelte nur einen Tag später in offenen Streit und führte zu einem Kommunikationschaos.
2022 beliefen sich die Hilfsgelder für die Palästinensergebiete nach EU-Angaben auf knapp 300 Millionen Euro. Mit dem Geld wird unter anderem die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in Ramallah finanziert, dazu Schulen, Krankenhäuser und Infrastruktur, vor allem im Westjordanland.
Im Brüssler Chaos wurde schnell deutlich, dass ein Kommissar jenes verkündete, der andere Kommissar dieses, einige Länder melden sich zu Wort, der Außenbeauftragte ebenfalls, aber mit dem Gegenteil dessen, was der vorherige Kommissar gesagt hat. Und wenn alle glauben, das Chaos sei eigentlich peinlich genug, gibt noch der Ratspräsident seine eigene Sicht der Dinge. Das Schauspiel hatte viele Akte, hier eine kurze Zusammenfassung:
Der ungarische EU-Kommissar Olivér Várhelyi, der für die Hifsgelder verantwortlich ist, eröffnete den Schlagabtausch. Die EU, so verkündete er, werde sofort alle Zahlungen an die Palästinenser stoppen und alle Projekte überprüfen. Diese Entscheidung wurde inhaltlich von Kommissionschefin von der Leyen mitgetragen. Aber Várhelyi veröffentlichte sie eigenmächtig und zu früh – vor dem für letzten Dienstag geplanten Sondertreffen der EU-Außenminister, die unter anderem über genau diese Frage beraten sollten. Várhelyi handelte sich deswegen umgehend Widerspruch ein: Zum einen protestierte sein slowenischer Kollege Janez Lenarčič, der in der EU-Kommission für Nothilfe zuständig ist. Geld für humanitäre Zwecke dürfe nicht zurückgehalten werden, teilte dieser pikiert mit.
Ebenso empörten sich etliche EU-Länder über den Alleingang der Kommission: Frankreich, Irland, Luxemburg und Spanien bezweifelten, dass es sinnvoll ist, der palästinensischen Zivilbevölkerung in den von Israel besetzten Gebieten die Unterstützung zu entziehen, um die Hamas zu bestrafen, die nur in Gaza herrscht. Zudem läge es in der Kompetenz der 27 EU-Regierungen, einen eventuellen Zahlungsstopp zu beschließen. In einer Presseerklärung der Kommission war dann von einem Aussetzen der Zahlungen keine Rede mehr. Stattdessen solle zunächst eingehend geprüft werden, was mit dem EU-Geld in den Palästinensergebieten passiere, hieß es. Und: Da derzeit ohnehin keine Überweisungen anstünden, müssten auch keine ausgesetzt werden. Allerdings wurde diese Linie kurze Zeit später vom EU-Außenbeauftragten Josep Borrell konterkariert. Er teilte mit, dass die Prüfung der EU-Kommission die „fälligen Zahlungen“ nicht beeinträchtigen werde.
Und es ist nicht der erste Konflikt innerhalb der EU-Institutionen: In der Kommission hatte es schon einmal Streit über Zahlungen an die Palästinenser gegeben, als Várhelyi 2021 Überweisungen an die Autonomiebehörde damit verknüpfen wollte, dass sie Hassrede in palästinensischen Schulbüchern unterbindet. Darum wurde dann erbittert gerungen, der Außenbeauftragte Borrell war dagegen. Freigegeben wurde das Geld erst im Juni 2022, vor einer Reise von der Leyens nach Ramallah.
Auch in Deutschland hat die Diskussion um Entwicklungshilfe schnell Fahrt aufgenommen. Nicht nur aus der Opposition gab es Forderungen, die Hilfe für die Palästinenser mindestens einzufrieren und zu prüfen, wenn nicht gar zu stoppen. Differenziert, um welche Hilfe es genau gehen soll, wurde zunächst kaum.
Das Außenministerium in Berlin ist nur für einen Teil der Gelder zuständig, die an die Palästinenser gehen. Ein weitaus größeren Teil verantwortet das Entwicklungsministerium. Dieses ist nun der Meinung, man habe auch bisher „schon streng darauf geachtet, dass unsere Unterstützung für die Menschen in den Palästinensischen Gebieten dem Frieden dient und nicht den Terroristen“. Die Angriffe aber seien eine Zäsur, daher werde man das gesamte „Engagement für die Palästinensischen Gebiete auf den Prüfstand stellen“. Aus dem Auswärtigen Amt wurde hervorgehoben, dass kein Geld an die Hamas gehe: „Deutschland finanziert keinen Terror.“
Die deutschen Zusagen für Entwicklungshilfe betragen derzeit 250 Millionen Euro. Es geht um Projekte zur Wasserversorgung, das Gesundheitssystem und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Eine direkte Finanzierung der Palästinensischen Autonomiebehörde gebe es nicht. Allein im Mai seien insgesamt 125 Millionen Euro für bilaterale Projekte zugesagt worden. „Wahrscheinlich ist die Zusammenarbeit mit Palästina das am besten überprüfte Portfolio des gesamten BMZ“, so eine Sprecherin des deutschen Entwicklungsministeriums. Die Zahlungen sind nun ausgesetzt, während wieder geprüft wird – auch in Abstimmung mit israelischen Stellen.
Das deutsche Außenministerium stellt in diesem Jahr gut 79 Millionen Euro bereit, um Menschen in den Palästinensische Gebieten zu helfen. Gut 72 Millionen davon sind humanitäre Hilfe. Sie gehen unter anderem an das World Food Programme der Vereinten Nationen zur Nahrungsmittelversorgung in Gaza und im Westjordanland (zehn Millionen), das Internationale Rote Kreuz für die Gesundheitsvorsorge (sieben Millionen) oder auch die UNICEF zur „Basisversorgung“ von palästinensischen Kindern und Familien (1,7 Millionen). Die Partner werden geprüft, und auch jeder einzelne Projektantrag, heißt es in Berlin. Es gibt später Berichte, was damit passiert. Auch vor Ort wird geprüft, ob das Geld wie angewiesen ausgegeben wird. Den mit Abstand größten Teil der Hilfen aus dem Auswärtigen Amt erhält wieder die UNRWA – 42 Millionen Euro für Nahrungsmittelhilfe in Gaza und weitere zwei Millionen unter anderem für die Weiterbildung von Beschäftigung und die Prüfung von Lehrmaterialien.
Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten stand bereits in der Vergangenheit immer wieder in der Kritik. In Berlin heißt es derzeit, UNRWA gehöre zu den Organisationen, die am meisten überprüft würden. Der UN-Organisation, die vor allem in den Bereichen Bildung, medizinische Versorgung und humanitäre Hilfe tätig ist, wird etwa vorgeworfen, kein neutraler humanitärer Akteur zu sein und mitunter mit Hamas-nahen Personen zusammenzuarbeiten. Hinzu kamen in der Vergangenheit Vorfälle, bei denen palästinensische Lehrer an international finanzierten Schulen antisemitische Inhalte verbreiteten.
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