Recep Tayyip Erdoğan war in Berlin und wurde vom Staatsoberhaupt empfangen, hatte ein Arbeitsessen beim Bundeskanzler. Die in Deutschland lebenden Fans des Sultans vom Bosporus hatten ihre Freude am Besuch ihres großen Idols Ende letzter Woche. Dann war da noch der sportliche Triumph der türkischen Fussball-Nationalmannschaft, die vorgestern die Deutschen mit 3:2 vor heimischem Publikum im Berliner Olympiastadium besiegten.
Über den Besuch Erdoğans in Berlin schwebte ein sehr großes Damokles-Schwert: Die Position des türkischen Präsidenten, die aus der Muslimbruderschaft entstandene Terrormiliz Hamas sei eine Befreiungsarmee, musste früher oder später auch Thema bei seinen Gesprächen mit der politischen Führung in Deutschland sein. Erdoğan durfte unwidersprochen einen deutschen Journalisten mundtot machen bei der Pressekonferenz mit Kanzler Scholz, der ihn gefragt hatte, wie seine Äußerungen gemeint seien und ob er zum Existenzrecht Israels stehe: Solche Fragen „dürfe“ ein Journalist nicht stellen, so Erdoğan. In der Türkei ist das auch so. Es war eine bizarre Veranstaltung und, weil völlig unnötig, für den Gastgeber zutiefst beschämend.
Da Erdoğan und seine Mitstreiter nicht nur eine indirekte Kontrolle über die deutschen Moscheegemeinden der türkischen Community hat, sondern eine ganz direkte, wurde den Deutschen sehr schnell bewusst, welche Gefahren aus dieser Verflechtung entstehen könnten. Vor allem die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib), Ableger der türkischen Religionsbehörde Diyanet und der größte und einflussreichste muslimische Verband in Deutschland, demonstriert aktuell, dass es bei der öffentlichen Abkehr von den Terrortaten der Hamas und vom Antisemitismus rote Linien gibt, die zu überschreiten man offenbar nicht gewillt ist. Die Frage ist nur, wie die deutsche Politik damit umgeht.
Begonnen hat die Geschichte mit einer guten Absicht. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel zeigte sich die deutsche Politik unzufrieden mit der Zurückhaltung der muslimischen Verbände. Also kam es zu Aufrufen an die Verbände und man traf sich zu Gesprächen. Die Ditib machte von Beginn an deutlich, dass sie wenig davon hält, von der deutschen Politik Nachhilfeunterricht zur Staatsräson zu bekommen. Mit den Aufrufen werde der Eindruck erweckt, „dass die Islamischen Religionsgemeinschaften erst zu einer richtigen Positionierung ermahnt werden müssen“ und es würden „Unwahrheiten angedeutet“, schrieb die Ditib verärgert. „Wir – die muslimischen Verbände – sind Teil der Lösung, nicht des Problems.“ Zähneknirschend nahm der Verband dennoch an einem Treffen teil, immerhin. Es folgten Besuche in Synagogen und Gegenbesuche in Moscheen. Danach wurde das Klima frostig. Denn dem ausdrücklichen Wunsch an die Islamverbände, die gemeinsame Botschaft über die Kritik an den Morden und Entführungen der Hamas in die Gemeinden und an die Basis zu tragen, wollte die Ditib anscheinend nicht nachkommen.
Warum glaubt die deutsche Politik überhaupt noch, sie könne ausgerechnet der vom türkischen Staat finanzierten Ditib eine glaubwürdige Distanzierung von den Gräueltaten der Hamas abringen, während der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan keine Gelegenheit auslässt, gegen Israel zu wettern und die Hamas zur „Befreiungsorganisation“ zu erklären? Was in Bezug auf die Ditib fast noch schwerer wiegt: Auch Ali Erbaş, religiöser Führer der türkischen Religionsbehörde Diyanet, hat deutlich gemacht, wo er im Konflikt zwischen Israel und der Hamas steht. Immer wieder seit dem Terrorangriff am 7. Oktober hat er offen gegen Israel gehetzt und antisemitische Botschaften verbreitet. Israel sei „wie ein rostiger Dolch, der im Herzen der islamischen Geografie steckt“, sagte er kürzlich in einer Predigt. Als Chef des Diyanet hat Erbaş maßgeblichen Einfluss auf den deutschen Ableger: Er gibt die theologische Linie vor, er entscheidet mit über die Besetzung des Ditib-Vorstands, er wacht über die 1.000 Imame, die der Verband nach Deutschland entsendet hat, um in den Moscheen den Islam sunnitischer Prägung zu lehren.
Die Verwerfungen mit der Ditib in den vergangenen Jahren sind zahlreich. Und auch dieses Mal fordern deutsche Politiker, den Verband nicht ungestraft davonkommen zu lassen. Viele sagen, ein „Weiter so“ mit der Ditib könne es nicht geben. Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, sagte auch mit Blick auf die Ditib, man dürfe sich nicht länger mit „abgepressten Lippenbekenntnissen“ und „wohlfeilen Gesten“ der Verbände zum Terrorangriff der Hamas auf Israel zufriedengeben. Auch die jüdischen Vertreter, die aktiv den Kontakt zur Ditib suchten, verlieren allmählich die Geduld. Schon bei einem Moscheebesuch in Bochum erklärten diese dem Generalsekretär der Ditib, man habe „unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Entgleisungen von Präsident Erdoğan, die des Diyanet-Chefs Erbaş oder auch die verstörenden israelfeindlichen Freitagspredigten des Diyanet hier in Deutschland keinen Platz haben“. Die Äußerung von Erbaş bezeichnete man als „geschichtsvergessen, menschenverachtend und schlicht ekelhaft“.
Warum ein klares Bekenntnis gegen Antisemitismus und Hamas-Terror auf der Ditib-Seite nicht veröffentlicht wird und ob er sich von den Hetztiraden seines religiösen Führers in der Türkei distanziere, lassen Vertreter der Ditib unbeantwortet. Das mag einerseits an der verpflichtenden Loyalität zum Dienstherren Erbaş liegen, andererseits könnten die Gründe wohl auch in der eigenen Überzeugung zu finden sein. Schon 2016 teilten führende Ditib-Vertreter beispielsweise eine Rede des ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten und Millî-Görüş-Gründers Necmettin Erbakan. Darin spricht der Politiker darüber, dass die Türkei von „zionistischen US-Banken“ ausgebeutet werde und wirbt für sein islamistisches Konzept der „gerechten Weltordnung“.
Auch andere Ditib-Funktionäre haben ihre Abneigung gegen Israel längst öffentlich gemacht. Ein anderer Ditib-Gemeindevorsteher in Deutschland etwa teilte zwei Tage nach dem Blutbad der Hamas auf Facebook ein Video in türkischer Sprache von einer propalästinensischen Demonstration. Darunter findet sich ein mit einer palästinensischen Flagge dekorierter Satz, der übersetzt lautet: „Verdamme Israel, mein Gott!“
Beim Umgang mit der Ditib befindet sich der deutsche Staat seit vielen Jahren in einem Dilemma. Mit mehr als 900 Gemeinden und Tausenden Mitgliedern ist die Ditib der größte und einflussreichste muslimische Verband in Deutschland und somit wichtigster Dialogpartner, wenn es um Themen wie Integration, islamischer Religionsunterricht an Schulen und Einflussnahme auf die muslimische Bevölkerung geht. Doch mit der zunehmenden Machtexpansion Erdoğans in der Türkei wurde auch der Verband in Deutschland immer stärker auf Linientreue getrimmt. Zahlreiche Male tauschte Ankara den in Köln beheimateten Bundesvorstand aus. Zuletzt im Herbst vergangenen Jahres. Die Hintergründe sind bis heute unklar. Vorsitzender ist seither Muharrem Kuzey, der zuvor als Religionsattaché im Generalkonsulat in Hürth in der Nähe von Köln den Interessen der Türkei diente. Öffentlich tritt er so gut wie nie in Erscheinung.
Wandel durch Nähe, das war viele Jahre die Strategie der deutschen Politik, um die Ditib zu Reformen und zu einer Abnabelung von Ankara sowie der Diyanet zu bewegen, sie zu öffnen für das Leben in einer liberalen Gesellschaft. Diese Bemühungen, sagt Güvercin, seien krachend gescheitert. Gerade vor dem Hintergrund des Unwillens, die eigenen Gemeinden durch Aufklärung und eine glaubwürdige Haltung resistenter gegen Antisemitismus zu machen, sei es nun Aufgabe der deutschen Regierung, den Druck auf die Ditib zu erhöhen. „Die Politik muss klare Forderungen formulieren und auch mit Konsequenzen drohen, sollte die Ditib ihr Verhalten nicht ändern.“ Eine Möglichkeit sei es, die Visavergabe für die Diyanet-Imame zu hinterfragen und gegebenenfalls sogar auszusetzen.
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