Das vergangene Jahr mit seinen weltweiten Krisen, angefangen bei den Nachwirkungen der Corona-Pandemie, zum Invasionskrieg Russlands in der Ukraine, bis zu den Terroranschlägen der Hamas in Israel und der darauf folgenden Krisenstimmung im Nahen Osten lassen viele Experten zurückblicken auf das Jahr 1979, das für viele eine weltpolitische Zäsur des 20. Jahrhunderts war, welche erst nun die Konsequenzen deutlich macht.
Die Behauptung ist, dass sich 1979 angebahnt habe, was womöglich erst Jahrzehnte später zur vollen Entfaltung kam. So war die Rückkehr des schiitischen Ajatollah Chomeini sicherlich ein Wendepunkt in der Geschichte des Nahen Ostens, ebenso wie die Besetzung der Großen Moschee durch sunnitische Extremisten in Mekka, die erst nach einem Massaker mit mehr als tausend Toten beendet werden konnte. Seit damals wurde der jahrhundertealte Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten um Vorherrschaft zunehmend erbittert und blutig ausgetragen. Eine Rolle beim Untergang des Kommunismus hat zweifellos auch der Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan gespielt. Nach einem grausamen und verlustreichen Krieg gegen die islamischen Glaubenskrieger („Mudschahedin“) mussten sich die Sowjets nach zehn Jahren gedemütigt aus dem Land am Hindukusch zurückziehen.
1979 wurde erstmals deutlich, was politischer Islam für die globale Sicherheit eigentlich heisst. Islamismus bildete den Nährboden bis heute in der verbreiteten Unzufriedenheit über Korruption, soziale Missstände und den Mangel an Freiheit und Demokratie in den Staaten des Mittleren Ostens. Ob in Iran, nach vierzig Jahren eines repressiven, inkompetenten Mullah-Regimes, immer noch religiöses Feuer lodert, darf im übrigen bezweifelt werden. Der islamistische Terror ist außerdem meist mit sunnitischen Gruppen (Al Qaida oder IS) verbunden; Iran mit seiner schiitischen Führung setzt auf Bündnisse mit Glaubensgenossen im Irak, im Libanon oder in Syrien, um mit staatlich-militärischen Mitteln Destabilisierung zu betreiben.
Die Zäsur, die das Jahr 1979 bedeutete, ist erst in den vergangenen Jahren klar ins Bewusstsein getreten, als sich die Folgen immer stärker bemerkbar machten. Die Welt wurde damals durch den faktischen Machtantritt des politischen Islams in Ungläubige und Gläubige gespalten. In Iran verhalf die islamische Revolution einem Fundamentalisten ins höchste Staatsamt. In Afghanistan brachte der Widerstand gegen die sowjetische Besetzung fast zeitgleich den Mudschahed als Prototyp des Glaubenskriegers hervor. Kurz zuvor hatten religiöse Fundamentalisten die große Moschee von Mekka besetzt, woraus der Pakt zwischen dem saudischen Königshaus und dem wahhabitischen Steinzeitislam entstand, der nun mit Petrodollars in alle Welt exportiert wurde.
Seither verfügt der politische Islam über ein klares Bewegungsprinzip: Aus seinen Stammgebieten im mittleren und nahen Osten dringt er wellenförmig in Regionen vor, in denen bis dahin gemäßigte Deutungen vorherrschten. Teils verbindet er sich mit dschihadistischen Strömungen, die sich besonders in der Sahelzone ausbreiten. Stark ist auch sein Einfluss auf Südostasien, wo seit der Jahrtausendwende fundamentalistische Gruppen in manchen Ländern die Oberhand gewinnen.
Es stellt sich nun die Frage, ob sich das Machtzentrum des politischen Islams von den Kernländern des Nahen und Mittleren Ostens in der Golfregion nach Afrika und Südostasien verschiebe. War der politische Islam einstmals als Protestbewegung entstanden, die den Despoten des arabischen Nationalismus die Stirn geboten und besonders junge Menschen angesprochen hat, so wird er heute von vergreisten Gelehrten und Staatsmännern repräsentiert, die selbst mit brutaler Härte gegen Kritiker vorgehen. Schlussfolgerung: Die Jugend von heute zeigt dem Islamismus in seinen Stammländern zunehmend die kalte Schulter. Umfragen signalisieren dort eine leicht säkulare Tendenz.
Wahrscheinlich ist diese kalte Schulter kaum stark genug, um die etablierten Mächte erzittern zu lassen. Wie so viele Generationenthesen steht auch diese auf wackligen Füßen. In Qatar oder der Türkei sitzt der politische Islam einigermaßen fest im Sattel. Afghanistan hat er zurückerobert. Das Beispiel Irans, wo sich fast jeder Zweite laut einer niederländischen Studie als areligiös bezeichnet, zeigt, wie lange sich ein überlebtes Regime gegen den Mehrheitswillen behaupten kann. Und an Ägypten lässt sich sehen, dass die Alternative zum Islamismus nicht die Demokratie sein muss. Außerdem müssen Islamismus und Nationalismus keine Antipoden sein. In der Türkei bildet beides eine Einheit.
Angesichts der Wendigkeit und Dynamik, mit der sich der politische Islam entwickelt, sind Prognosen riskant. Fraglich ist, ob er seinen Siegeszug fortsetzt, wenn das Geld aus den Ölquellen einmal versiegt. Dass sich in der Zwischenzeit wie von selbst Gegenkräfte bilden, die ihn zurückdrängen, ist nach der Erfahrung des arabischen Frühlings wohl zu idealistisch gedacht. Ein Schlüssel wird sein, ob Saudi-Arabien seinen Säkularisierungskurs fortsetzt und die enge Verbindung zum Wahhabismus kappt. Darauf deutet manches hin.
Solange am Golf die Ölgelder sprudeln, dürfte der ideologische Motor aber dort zu finden sein. Der Wissenschaftler Ruud Koopmans des Wissenschaftszentrums Berlin nennt das Beispiel der Malediven, die heute eines der autoritärsten islamistischen Länder sind. Maumoon Abdul Gayoom, der das Land in den Neunzigerjahren ideologisch auf Kurs brachte, hat in Kairo an der Azhar-Universität studiert. Dasselbe Verhältnis von Zentrum und Peripherie findet sich bei dem geistigen Mentor von Boko Haram, der die Universität von Medina besuchte.
Die von politischem Zerfall geprägte Subsahara ist für den Islamismus ein idealer Nährboden. Der Klimawandel mit all seinen Verheerungen wird ihm weiteren Zulauf bescheren. Demographisch ist die Region ein Pulverfass. Die höheren Fertilitätsraten unter Muslimen in Ländern wie Nigeria dürften den Druck auf Christen und andere Religionen nochmals erhöhen. Die Zahl der Todesopfer und Vertriebenen ist schon heute bestürzend hoch.
Und in Europa findet der politische Islam besonders günstige Bedingungen vor, wo islamistische Vereine unter dem Schutzmantel des Antirassismus Unterschlupf finden. Obwohl der politische Islam in Europa auf eine Strategie der gewaltfreien Unterwanderung setzt, ist auch hier die Grenze zur Militanz nicht klar zu ziehen. Ein Beispiel ist das Attentat auf den französischen Lehrer Samuel Paty, gegen den islamistische Verbände aus dem Umkreis der Muslimbruderschaft agitiert hatten, bevor ein Dschihadist den Hinweis aufnahm und den Lehrer enthauptete. Der politische Islam braucht den Dschihadismus als ideologische Krücke, weil er durch militärische Scheinsiege darüber hinwegtäuscht, dass die Anhänger einer sich überlegen wähnenden und die Weltherrschaft anstrebenden Religion ihren Widersachern hoffnungslos unterlegen sind.
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