In den Gesellschaften des Westens ist der mögliche Zusammenhang von Religion und Gewalt nach den Terrorakten der Hamas vom 7. Oktober 2023 wieder einmal Grund für tiefgreifende Debatten. Die Mehrheit der Gläubigen, egal ob Christ, Moslem, Jude, Hindu oder Buddhist, tragen natürlich keine Maschinengewehre, Macheten oder Beile in ihren Händen, vergewaltigen nicht im Namen der Religion oder feiern ein blutiges Massaker freudig in der Öffentlichkeit.Der „normale Gläubige“ betrachtet seine Religion als persönliche Hinwendung zu einer übergeordneten Macht.
Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass im Namen eines oder mehrerer Götter Scheiterhaufen angezündet, Kreuzzüge veranstaltet und gemordet wurde. Viele dieser Gewalttaten hatten natürlich nicht allein religiöse Gründe, sondern der „Feind“ stellte vielleicht auch zusätzlich eine akute politische Gefahr dar. Vielen Zeitgenossen scheinen jedoch religiöse Wahrheitsansprüche besonders anfällig für Gewaltanwendung zu sein. Denn im Unterschied zu wissenschaftlichen Wahrheiten erheben Religionen einen Totalitätsanspruch. Gerade monotheistische Religionen sind laut Wissenschaft intrinsisch gewalttätig, weil sie auf einem emphatischen Wahrheitsbegriff beruhen, der die Kategorie der Unvereinbarkeit impliziert.
Am Anfang der grossen Offenbarungsreligionen stehen oft Gewaltakte. Die von Jahwe verlangte Opferung von Abrahams Sohn Isaak wurde bezeichnenderweise auf Geheiss desselben Gottes nicht durchgeführt, denn der Gott Abrahams war „ein barmherziger und gnädiger Gott“. Er machte Abraham aufgrund seines Gehorsams zum Stammvater einer universalen Verheissung. Der Tod von Jesus von Nazareth am Kreuz wiederum steht gemäss christlichem Selbstverständnis deshalb im Zentrum, weil er aus freien Stücken gewählt und nicht getan, sondern erlitten wurde. Dies aus Liebe Gottes zu den Menschen, die sich im menschgewordenen Gottessohn und schliesslich am Kreuz offenbart. Dadurch, dass sich der Gekreuzigte selbst zum Opfer macht, erlöst er die Menschheit – erlöst sie auch von Gewalt als Mittel der Gottesverehrung. Denn das grausame Geschehen legitimiert niemanden, anderen Ähnliches anzutun – im Gegenteil.
Im Islam findet sich dafür keine Entsprechung. An seinem Beginn steht der Empfang eines Buches aus den Händen des der jüdischen Tradition entstammenden Erzengels Gabriel und die durch den Propheten persönlich vorgenommene Massakrierung der Juden von Medina, welche die in dem Buch enthaltene Botschaft und ihren Propheten Mohammed abgelehnt hatten. Denn ein barmherziger und gnädiger Gott ist Allah nur für die Gläubigen. Während die frühen Christen nach Widerstand gegen ihre Predigt in den jüdischen Synagogen weiterzogen, griff Mohammed zum Säbel. Zur Ursprungserzählung des Islam gehört deshalb das Töten Ungläubiger im Namen Allahs – so steht es als Weisung auch im Koran. Die christliche Ursprungserzählung hingegen ist die aus Liebe vollzogene Selbsthingabe des menschgewordenen Gottes für die Erlösung aller Menschen – eines Gottes, der in Jesus von Nazareth, von einer jüdischen Mutter geboren, selbst Jude wurde und sich nicht auf eine neue heilige Schrift, sondern auf die Verheissung an Abraham und das Gesetz des Mose, die jüdische Thora, berief.
Das Christentum hat natürlich die Juden verfolgt. Die Institution Kirche brandmarkte sie als Christusmörder und schuf damit eine Theologie, die auch zu Hass und Verfolgung durch Christen führte. Vor Verfolgungen aber versuchte die Kirche die Juden zu beschützen, sie sollten – ausgegrenzt und rechtlich diskriminiert – als Zeugen der christlichen Wahrheit weiterleben und wenn möglich bekehrt werden. Gleichzeitig beschützte die Kirche die Christen vor dem angeblich schädlichen jüdischen Einfluss auf sie. Diese „doppelte Schutzherrschaft“ bedeutete eine verhängnisvolle Ausgrenzung, jedoch keine Verfolgung. Die grossen Judenvertreibungen waren zumeist politische Akte der Staatsräson, man denke an die Vertreibung der Juden aus England und später aus Spanien. Hinter den Judenpogromen verbargen sich zumeist eher unreligiöse Interessen politischer Art wie auch ganz normaler Neid und Missgunst.
Und die Inquisition, die Kreuzzüge? Die Inquisition beispielsweise war weder extrem grausam, noch hat sie, wie etwa Voltaire behauptete, Zehntausende dem Henker ausgeliefert. Für heutige Massstäbe oft geradezu bestialisch grausam war der damalige Strafvollzug durch die weltliche Gerichtsbarkeit. Dieser lag gerade nicht in den Händen der Kirche und hatte seinen Ursprung im altgermanischen Strafrecht. Die spanische Inquisition der frühen Neuzeit war eine politische Veranstaltung des Staates mit Kollaboration der Kirche. Zwischen 1540 und 1700 wurden insgesamt 826 Todesurteile vollstreckt. Das alles ist immer noch schrecklich genug, ist aber keineswegs geeignet, einen Kausalzusammenhang zwischen Religion und Gewalt zu belegen.
Die viel früher – im Hochmittelalter – eingerichtete römische Inquisition entstand, um an der Stelle des Übels spontaner Lynchjustiz des über die teilweise gewalttätigen Ketzer erbosten christlichen Volkes ein geordnetes Ermittlungsverfahren («inquisitio») gemäss dem damals geltenden römischen Recht einzuführen. Die römische Inquisition bewahrte mit Sicherheit weit mehr Menschen vor dem Tod, als sie aufgrund ihrer Urteile an die weltliche Strafgerichtsbarkeit überstellte.
Die Rechtshistorie bezeichnet mittlerweile den mittelalterlichen Inquisitionsprozess im Vergleich zum vorhergehenden germanischen Prozessrecht als rechtskulturellen Fortschritt und Humanisierung des Strafprozessrechtes. Mit der „inquisitio veritatis“, der „Erforschung der Wahrheit als einer Tatfrage“, hat das „Zeitalter der Rechtswissenschaft“ begonnen. Allerdings: Da man anstelle anonymer Denunziationen aufgrund von Fakten urteilen wollte, suchte man Geständnisse zu erwirken – wenn nötig auch mithilfe der Folter. Mit Verweis auf die Inquisition jedoch einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Religion und Gewalt zu behaupten, entspringt historischer Unwissenheit oder ist billige Polemik.
Religionen können jedoch auch intrinsisch politisch sein. Genau hier unterscheiden sich Christentum und Islam grundsätzlich: Der Islam ist eine im eigentlichen Sinne „politische Religion“: Er ist als Religion auch ein Rechts- und Gesellschaftssystem; mit der Scharia etabliert er eine politisch-rechtliche und soziale Ordnung. Anders das Christentum: Dieses versprach von Anfang an allein und ausschliesslich einen Weg zum ewigen Heil und vertritt gerade deshalb eine klare Arbeitsteilung zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Die antik-christliche Zivilisation leitete zudem ihr Rechtssystem nicht aus ihren Heiligen Schriften ab, sondern behielt das bisherige römische Recht bei.
Natürlich gestaltete auch die christliche Kirche aufgrund ihrer Lehre der Suprematie des Geistlichen über das Weltliche im Laufe der Geschichte politische Ordnungen mit. Sie identifizierte sich aber nie endgültig mit einer bestimmten politischen Ordnungsform und entwickelte auf der Grundlage des römischen ihr eigenes, das kanonische Recht. Aufgrund der ursprünglich-christlichen Trennung von Religion und Politik, von geistlicher und weltlicher Gewalt – „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser, und Gott, was Gott gehört“ –, konnte sie ihre Vermischungen mit den irdischen Gewalten immer wieder mit Berufung auf ihre Ursprünge korrigieren, oft unter dem Druck von Reformbewegungen aus ihrem eigenen Innern. Für den Islam jedoch ist gerade die Einheit von Religion, Recht und sozialer Ordnung und das damit verbundene öffentliche Gewaltmonopol Ursprung und Wesensmerkmal. Daher sind Islamismus und „politischer Islam“ keine extremen Sonderformen des Islam, sondern die „reine Lehre“.
Allerdings kann jede Religion politisch und gewalttätig werden, sobald sie sich mit politischen Interessen verbindet – etwa mit solchen nationalistischer Art. Im Verbund mit Nationalismus wird Religion leicht gewalttätig, oder besser: Nationalismus wird genau dann besonders aggressiv und gewalttätig, wenn er sich religiös legitimiert. Politik verbindet sich dann mit religiös-kulturellen Totalitätsansprüchen und ist bereit – sei es im Namen des Kreuzes oder im Namen Allahs –, buchstäblich über Leichen zu gehen.
Als von seinem Wesen und Ursprung her politische Religion ist der Islam in dieser Hinsicht gleichsam strukturell gefährdet. Da es ihm vornehmlich um die Ausweitung seines Herrschaftsgebietes – „Haus des Islam“ genannt – und weniger um die innere Konversion der Beherrschten geht, tolerierte er zwar im Laufe der Geschichte Juden und Christen als „Schutzbefohlene“ (Dhimmi), eine Art Bürger zweiter Klasse. Aufgrund seiner politischen Logik führte dies schliesslich jedoch fast überall zu deren Vertreibung oder Ausrottung.
Das lässt die These plausibel werden, das palästinensische Nationalbewusstsein habe nur insofern zum mörderischen Gegner eines jüdischen Staates werden können, als es mit dem religiösen Anspruch des Islam als einer intrinsisch politischen Religion verbunden war. Die politische, nicht die religiöse Komponente, sofern diese beim Islam überhaupt unterscheidbar sind, begründet demnach den Konflikt. Genährt vom rassistischen Judenhass der Muslimbruderschaft macht die Verbindung von Islam und palästinensischem Nationalismus die Hamas besonders gefährlich und generierte so die im letzten Oktober sich manifestierende brutale Gewalt.
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