Es ist Krieg, es herrscht Verzweiflung, und niemand hat eine Lösung. Kein Wunder also, dass in den nahöstlichen Wirren nun nach einem Retter gesucht wird – und dass dabei schnell sein Name auftaucht: Marwan Barghouti. Als prominentester palästinensischer Häftling könnte er im Austausch gegen die israelischen Geiseln in Gaza aus dem Gefängnis freikommen. Anschließend soll der Fatah-Mann mit besten Drähten zur Hamas nicht nur die Palästinenser einen, sondern gleich auch noch den Frieden im Rahmen einer Zweistaatenlösung vorantreiben.
Alles in dieser Barghouti-Saga spielt sich noch im Konjunktiv ab. Noch gibt es keinen neuen Geisel-Deal, noch weiß niemand, ob er es dabei wirklich auf die Austauschliste schaffen würde – und erst recht kann keiner vorhersehen, welche Rolle der 64-Jährige dann nach mehr als 20 Jahren in Haft tatsächlich spielen könnte. Aber Barghoutis Vita lässt Raum für Hoffnungen ebenso wie für Projektionen.
Für viele Israelis mag Barghouti ein Terrorist sein mit Blut an den Händen. Für die Palästinenser ist er über alle Lager hinweg ein Volksheld und Freiheitskämpfer. Seine Geschichte beginnt in einem kleinen Dorf nahe Ramallah im Westjordanland, wo er 1959 geboren wurde. Schon mit 15 Jahren schloss er sich der Fatah von Jassir Arafat an, mit 18 landete er zum ersten Mal in einer israelischen Zelle. Das Politikstudium an der Bir-Zait-Universität zog sich wegen verschiedener Gefängnisaufenthalte in die Länge. Als 1987 die erste Intifada losbrach, verbannten die Israelis ihn sofort ins Exil nach Jordanien.
1994, zu Zeiten der Osloer Verträge, kehrte er an Arafats Seite in die Heimat zurück. Er bekannte sich zum Frieden mit Israel und zur Zweistaatenlösung. Im neu aufgebauten palästinensischen Machtapparat legte er eine Blitzkarriere hin, wurde Generalsekretär der Fatah, zog als Abgeordneter ins Parlament ein und übernahm die Führung der Tansim-Miliz, eines paramilitärischen Arms der Fatah.
Nicht lange dauerte es, bis er mit der alten Garde um Arafat über Kreuz geriet. Er prangerte die Korruption an und radikalisierte sich angesichts des stockenden Friedensprozesses. Mit Beginn der zweiten Intifada, die durch blutige Selbstmordattentate gekennzeichnet war, geriet er schnell wieder ins Visier der Israelis. 2002 wurde er verhaftet und als Drahtzieher mehrerer Terroranschläge 2004 zu fünfmal lebenslanger Haft plus 40 Jahre verurteilt.
Hat die Palästinenser-Führung wirklich Interesse an solcher Konkurrenz? Im Verfahren, das er als „politischen Schauprozess“ bezeichnete, hatte er auf einen Verteidiger verzichtet. Nach dem Urteilsspruch reckte er in Handschellen die Arme hoch zum Siegeszeichen. Dann verschwand er hinter Gittern, oft für lange Zeit in Einzelhaft, und dass er nicht vergessen wurde, hat er auch seiner Frau Fadwa zu verdanken. Die Rechtsanwältin und Mutter der gemeinsamen vier Kinder kämpft hauptberuflich für seine Freilassung und sorgt dafür, dass seine Botschaften aus der Haft nicht ungehört verhallen.
Barghouti ist als Anführer und Hoffnungsträger so unumstritten, dass auch die Hamas sich seit Jahren für seine Freilassung einsetzt, obwohl er der rivalisierenden Fatah von Abbas angehört. Auch in den laufenden Gesprächen über ein neues Abkommen zwischen Israel und der Hamas geht es nicht zuletzt um ihn. Die Hamas hat israelischen Medienberichten zufolge eine lange Liste mit den Namen inhaftierter Palästinenser vorgelegt, deren Entlassung sie im Austausch für die Freilassung weiterer Geiseln fordert. Auch Barghoutis Name stehe darauf.
Unstrittig ist, dass Marwan Barghouti auch im Gefängnis enormen Einfluss hatte und hat. Ein von ihm mitunterzeichneter Brief von Häftlingen mehrerer Parteien – das berühmte „Häftlingsdokument“ – gab 2006 den Anstoß dafür, dass im Jahr darauf eine Einheitsregierung zwischen Hamas und Fatah gebildet wurde, auch wenn sie kurzlebig war. 2017 initiierte er einen erfolgreichen Hungerstreik gegen die Haftbedingungen.
Unter Ben-Gvir wurden die Haftbedingungen für Palästinenser wieder deutlich verschärft. Seit dem 7. Oktober hat sich die Situation in den Gefängnissen nochmals zugespitzt. Im Westjordanland wurden zahlreiche Personen verhaftet – mehr als 7.300 laut Angaben von Abdallah al-Zeghari, dem Präsidenten des „Palästinensischen Gefangenenclubs“. Unter ihnen seien Frauen, Kinder, Journalisten und politische Aktivisten, sagt er. Viele seien in „Administrativhaft“ gesteckt worden, eine Inhaftierung ohne Prozess oder Anklage, die Monate oder sogar Jahre dauern kann.
So hat er seinen Ruf zementiert als unbeugsamer Kämpfer und Brückenbauer zugleich. Als die Palästinenser nach zwei Kriegsmonaten nun in einer Umfrage wählen sollten, wen sie im Präsidentenamt sehen wollen, kam Barghouti unangefochten auf den ersten Platz. Hamas-Chef Ismail Hanija wurde Zweiter, der amtierende Präsident Mahmud Abbas landete weit abgeschlagen auf Platz drei. Die Frage ist jetzt allerdings, ob Israels rechte Regierung einen Mann freilässt, der die Zweistaatenlösung voranbringen könnte. Und ob die Palästinenser-Führung wirklich Interesse hat an solcher Konkurrenz.
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