Die Hamas kämpft in Gaza ums nackte Überleben. Seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres kämpft die Terrorgruppe der Muslimbruderschaft Hamas ums nackte Überleben. Nachdem sie in Israel ein Massaker angerichtet hat, sind Tausende ihrer Leute im Krieg gegen Israels Armee gefallen. Ihre lokalen Kader verstecken sich in Tunneln, international ist sie isoliert, und ihre einstige Hochburg ist ein Trümmerfeld. Doch Khaled Mashal, der politische Kopf der Hamas, will darin keine Niederlage sehen, zumal er nicht in Gaza lebt.
Die Machtverhältnisse sind unausgeglichen, sagt er immer wieder der Öffentlichkeit aus seinem Palast in Katar.Die Hamas sei widerstandsfähig und der Widerstand mache verschiedene Phasen durch, es sei ein natürliches Auf und Ab. Zudem wende sich die öffentliche Meinung in der Welt angesichts der Zehntausenden von Toten in Gaza immer mehr gegen Israel. „Das zeigt, dass die Welt erkennt, dass wir im Recht sind“, so der intellektuelle Kopf der Terroristen.
Mashal war von 1996 bis 2017 Chef des Politbüros der Hamas. Zwar hat er das Amt inzwischen an seinen Nachfolger Ismail Haniya abgegeben, dennoch gilt der 67-Jährige bis heute als graue Eminenz der Hamas – und als jener Führer, der sie noch am ehesten vor dem Untergang retten kann. Wer verstehen wolle, welche Optionen die Hamas habe – so hört man aus ihrem Umfeld –, müsse daher mit Mashal sprechen. Doch seit dem 7. Oktober hat er so gut wie keine Journalisten getroffen, westliche schon gar nicht. Wenn er öffentlich spricht, trägt er einen Nadelstreifenanzug, sein Bart glänzt silbern. Er gibt sich sowohl staatsmännisch als auch hart, lässt Widerrede zu, ist aber auch bestimmt. Eines stellt er immer wieder klar: Der Terrorangriff vom 7. Oktober, der nicht nur in Israel, sondern auch in Gaza so viel Tod und Zerstörung verursacht hat, war aus seiner Sicht absolut gerechtfertigt.
Dann sagt er Sätze wie: „Der 7. Oktober ist eine wichtige Runde im Kampf gegen die Besetzung“, als habe es sich bei dem Überfall auf die Armeestützpunkte und Kibbuzim im Süden Israels um eine spontane Volkserhebung gehandelt und nicht um eine von der Hamas im Geheimen geplante Kommandoaktion. „Der Aufstand hat gezeigt, dass das palästinensische Volk die Besetzung nicht weiter hinnehmen will und entschlossen ist, sie abzuschütteln.“ Dass die Hamas in Israel Zivilisten getötet hat, bestreitet er – allen Beweisen zum Trotz. Und dass infolge des Angriffs nun auch Gaza in Trümmern liegt und dort Zehntausende ihr Leben verloren haben, nimmt er in Kauf. Zerstörung treffe alle Völker, die unter Besetzung litten. Mashal spricht meist ruhig und gelassen und lächelt immer wieder. Dabei ist es nicht nur Gaza, das jetzt in einem Feuersturm untergeht, sondern auch sein eigenes Lebenswerk. Denn der Physiker hat die Hamas Ende der achtziger Jahren nicht nur mitgegründet, er hat sie als Chef des Politbüros erst zu dem gemacht, was sie heute ist.
Unter seiner Führung gewann die islamistische Bewegung die Parlamentswahl in den palästinensischen Gebieten 2006, ein Jahr später riss sie die Macht in Gaza an sich und wurde zu einem politischen Akteur, mit dem sogar Israel indirekt verhandelte. 2017 hinterließ Mashal der Hamas eine neue Charta, in der sie einen Palästinenserstaat in den Grenzen von 1967 akzeptierte – zu einer Anerkennung Israels konnte sie sich allerdings nicht durchringen. Er war Strippenzieher und Chefdiplomat zugleich. Er muß gewusst haben, welche Folgen ein Anschlag wie am 7. Oktober für die Hamas haben würde. Hat er ihn trotzdem genehmigt? Oder wusste er gar nicht Bescheid? Zum Zeitpunkt des Angriffs war er in Istanbul. Ein Video zeigt ihn, wie er dort mit weiteren Hamas-Führern in einem Büro die Live-Berichterstattung des arabischen Nachrichtensenders al-Jazeera verfolgt und spontan zum Gebet niederkniet.
Wer in der Hamas-Führung wirklich das Sagen hat und wie sie genau tickt, lässt sich nur schwer abschätzen. Zwar gibt es ein zentrales Politbüro, einen Shura-Rat und weitere Gremien, deren Mitglieder bekannt sind und in internen Wahlen bestimmt werden. Nach aussen hin geben sich die Hamas-Führer stets einig und geschlossen. Hinter den Kulissen ringen jedoch unterschiedliche Strömungen um Einfluss. Jahrelang gaben die als relativ pragmatisch geltenden Exilführer um Mashal den Ton an. Seit 2017 haben sich die Gewichte verschoben, und neue, weitaus radikalere Mitglieder haben nach der Macht gegriffen. Sie stammen meist aus Gaza, der eigentlichen Hochburg der Hamas. Dort stellten sie bis zum Krieg die Regierung und hatten ihren bewaffneten Flügel, die Kassam-Brigaden, stationiert.
Sein Nachfolger, Ismail Haniya, gehört zu den Hardlinern, ebenso Yahya Sinwar, der derzeitige Chef der Hamas in Gaza. Sinwar gilt als der Hauptverantwortliche für den Angriff vom 7. Oktober. Er stammt aus dem Umfeld der Kassam-Brigaden und hat in den letzten Jahren enorm an Einfluss gewonnen. Mashal meint in seinen Statements immer wieder, alle Flügel arbeiteten harmonisch zusammen, iInnerhalb der Hamas hätten langjährige politische Führer ebenso ihren Einfluss wie der militärische Flügel. Alle wichtigen Entscheidungen würden stets im Rahmen der Gesamtorganisation gefällt. Dennoch hält sich das Gerücht hartnäckig, Sinwar habe am 7. Oktober auf eigene Faust gehandelt. Zuzutrauen wäre es ihm. Denn Sinwar, der in einem Flüchtlingslager in Khan Yunis aufwuchs und lange Jahre in israelischen Gefängnissen sass, gilt als brutal und rücksichtslos. So soll er früher eigenhändig mutmassliche Kollaborateure hingerichtet haben.
Interne Berichte aus dem Innern der Hamas äussern hinter vorgehaltener Hand längst Zweifel an Sinwars strategischen Fähigkeiten. Die Exilführung in Katar hatte schon 2021 versucht, Sinwar bei der Neubesetzung des Gaza-Politbüros von der Macht zu verdrängen – allerdings vergeblich. Inzwischen ist es für einen solchen Kurswechsel wohl zu spät. Stattdessen muss sich die Hamas, wenn sie denn überhaupt noch eine Zukunft haben will, im Exil neu aufstellen.
Dabei führt wohl kein Weg an Mashal vorbei. Im Gegensatz zu anderen Hamas-Chefs wirkt er weltgewandt. Die Chance dazu hätte er, denn Ismail Haniya hat sich möglicherweise verkalkuliert. Der Noch-Chef gilt als treibende Kraft hinter der engen Allianz mit Iran, welche die Hamas in den letzten Jahren eingegangen ist. Doch das Bündnis hat sich nur begrenzt ausgezahlt. Zwar hat die proiranische Hizbullah am 8. Oktober zur Unterstützung der Hamas eine zweite Front im Norden Israels eröffnet. Sonst belassen es die Verbündeten aber mehrheitlich bei Lippenbekenntnissen. Mashal hingegen war wohl nie ein glühender Anhänger Teherans. Während des Syrien-Kriegs hatte er sich gegen das Assad-Regime und dessen iranische Unterstützer gestellt. Dies führte zu einem Zerwürfnis der Hamas mit Teheran, das erst nach Jahren gekittet werden konnte. Mit dieser Positionierung hat sich Mashal seine Optionen am Golf offengehalten. Trotzdem würde es auch für ihn nicht leicht werden, die Isolation der Hamas zu durchbrechen. Denn sie ist nicht nur im Westen verhasst, sondern auch in vielen Golfmonarchien. Und die Verhandlungen mit Israel über einen Gefangenenaustausch und eine langfristige Waffenruhe in Gaza, die die Hamas zwecks Reorganisation eigentlich dringend braucht, kommen ebenfalls nicht voran.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Hamas die restlichen Geiseln nur im Gegenzug für einen dauerhaften Waffenstillstand und einen Rückzug der israelischen Armee aus Gaza freilassen will. Kompliziert ist auch das Verhältnis zur Fatah, denn ohne Aussöhnung mit der Partei des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas wird es für die Hamas schwer, bei künftigen Verhandlungen über die Nachkriegsordnung ein Wort mitzureden. Doch die Fatah-Leute haben nicht vergessen, wie sie von der Hamas 2007 mit Gewalt aus Gaza rausgeworfen wurden. Entsprechend unwillig sind sie, der geschwächten Konkurrentin entgegenzukommen.
Es ist fraglich, was von der Hamas nach dem Krieg übrigbleiben wird. Sollte sie ihre einstige Hochburg in Gaza verlieren, läge die Macht wieder bei den Exilanten am Golf und damit wohl bei Khaled Mashal. Für ihn persönlich wäre das eine Rückkehr an die Spitze. Doch der neue, alte Führer der Hamas wäre dann möglicherweise ein König ohne Königreich.
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