Diesen Monat trafen sich auf Zypern europäische Regierungsvertreter zu einem besonderen Migrationsgipfel: Es ging um die Ausweisung „sicherer Zonen“ in Syrien, wohin dann syrische Flüchtlinge in großer Zahl abgeschoben werden könnten. Die Forderung nach „Safezones“ wurde auch wieder erhoben, als EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kurz vorher in Beirut ein Hilfspaket für Libanon ankündigte, wo laut Schätzungen etwa anderthalb Millionen syrische Flüchtlinge leben. Ein Rückgang der Gewalt, das heben Beobachter in Syrien, Fachleute und westliche Diplomaten hervor, ist aber nicht gleichbedeutend mit Sicherheit. Der UN-Sondergesandte Geir Pedersen zeichnete am 25. April vor dem UN-Sicherheitsrat ein düsteres Bild: „Tatsächlich gibt es an keinem der Schauplätze in Syrien Anzeichen für eine Beruhigung – nur ungelöste Konflikte, brodelnde Gewalt und heftig aufflackernde Feindseligkeiten, von denen jede das Zündholz für einen neuen Flächenbrand sein könnte.“ Besserung sei nicht in Sicht, die Trends gingen in die „falsche Richtung“.
Im Nordwesten Syriens, der von Gegnern des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad beherrscht wird, hat der Krieg noch nicht aufgehört. Assad hat geschworen, ganz Syrien wieder unter seine Kontrolle zu bringen – zur Not mit militärischen Mitteln. So gibt es in der Provinz Idlib regelmäßig Gefechte und gegenseitigen Beschuss entlang der Front. Immer wieder wird bei syrischen oder russischen Luftangriffen zivile Infrastruktur getroffen. Von den Kämpfen sind auch Gegenden betroffen, die in den sogenannten Deeskalationszonen liegen, die 2017 unter türkisch-russisch-iranischer Regie vereinbart wurden. Die Provinz wird mit harter Hand von einer Allianz radikaler Islamisten beherrscht. der Hayat Tahrir al-Scham (HTS). Deren Anführer Abu Muhammad al-Golani hat versucht, sich als ein pragmatischer Staatsmann zu inszenieren, der die Entwicklung vorantreibt. Er zeigt sich aber zunehmend von seiner kleptokratischen, paranoiden und brutalen Seite. Der HTS-Sicherheitsapparat foltert und mordet, hat Tausende politische Gegner festgesetzt. Die Dschihadisten haben es so weit getrieben, dass jetzt jene Menschen, die einst gegen Assad auf die Straße gingen, gegen einen vollbärtigen Gewaltherrscher protestieren. Golanis Reich leidet zudem unter wirtschaftlichem Niedergang und ist hoffnungslos überbevölkert. Die Nordwestprovinz ist ein Sammelbecken für Binnenvertriebene und Leute, die im Zuge von Kapitulationsvereinbarungen dorthin deportiert wurden. Vor dem Krieg lebten etwa 1,3 Millionen Menschen in Idlib, diese Zahl hat sich gemäß Schätzungen auf 5,1 Millionen fast vervierfacht.
In anderen Teilen Nordwestsyriens, in denen türkeitreue arabische Milizen das Sagen haben, ist die Lage nicht bedeutend besser. Auch hier ziehen sich die Zeltlager von Binnenvertriebenen wie riesige Lindwürmer durch die Landschaft. Schon jetzt gibt es Spannungen zwischen Syrern aus verschiedenen Gegenden. Auch wenn einzelne der Milizen, die unter türkischem Schutz und dem Schirm der „Syrischen Nationalen Armee“ (SNA) herrschen, sich einigermaßen staatstragend aufführen mögen, sind die Menschen durch die Willkür der Warlords bedroht. Die Türkei ist in der Grenzregion allgegenwärtig: Es gibt türkische Postämter, lokale Verwaltungen erhalten Budgethilfe aus Ankara. Eine dauerhafte Rückführung syrischer Flüchtlinge würde auch eine dauerhafte türkische Schutzherrschaft in Nordsyrien erfordern, die nicht nur mit Blick auf rechtliche Fragen problematisch ist. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bekäme einen mächtigen politischen Trumpf in die Hand. Unter den Assad-Gegnern, die in den türkisch dominierten Kantonen leben, herrscht außerdem Furcht, Erdogan und Assad könnten sich irgendwann arrangieren – und das syrische Regime wieder nach diesen Regionen greifen.
Im syrischen Nordosten, wo dass Herrschaftsgebiet der Autonomieregierung über die kurdischen Siedlungsgebiete hinausreicht, gibt es Spannungen mit arabischen Stämmen, die sich auch in Gewalt entladen. Zudem ist die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS), der in Syrien im Untergrund langsam wiedererstarkt, eine Bedrohung, nicht zuletzt in der Ostprovinz Deir el-Zor. Ebenso die Konfrontation mit der Türkei und ihren syrisch-arabischen Getreuen: Immer wieder kommt es zu türkischem Artilleriebeschuss oder Drohnenangriffen. Als Präsident Donald Trump 2019 die amerikanischen Truppen aus Nordostsyrien abzog, stießen Assads russische Verbündete in das Vakuum. Ankara führte seinerzeit eine Invasion, deren Neuauflage wie ein Damoklesschwert über den Kurdengebieten hängt. Eine dauerhafte amerikanische Präsenz ist nicht gesichert, und im Fall eines Abzugs könnten die Kurden, wie schon zu anderen Gelegenheiten, ihr Heil in einem Arrangement mit Assad suchen.
In dem Rumpfstaat, über den der Diktator Assad herrscht, ist der Krieg weitgehend vorbei. Aber es kommt noch zu Unruhen. Der Syrien-Sondergesandte Pedersen berichtete dem UN-Sicherheitsrat von Kämpfen zwischen Regime-Kräften und früheren Rebellengruppen in der Provinz Daraa, wo auch die Minderheit der Drusen in der Stadt Sweida derzeit den Aufstand probt. Aber nicht nur der Krieg wird als Unsicherheitsfaktor wahrgenommen, sondern das Regime selbst. Eine weitere Bedrohung ist die Verfolgung durch den Sicherheitsapparat, der weitgehend walten kann, wie er will. Dazu zählen nicht nur die Geheimdienste und die Streitkräfte, sondern verschiedenste Milizen, die zum Teil örtlichen Warlords unterstehen. Eine generelle Amnestie, die allen Assad-Gegnern Straffreiheit garantiert, gibt es nicht. Die Verwirklichung verkündeter Teilamnestien wurde vom Apparat verschleppt. Die Verhältnisse sind daher nicht eindeutig geklärt. Nach Einschätzung mehrerer Fachleute, UN-Mitarbeiter und Diplomaten könnte für einen Teil der Syrer die Rückkehr in ihr Land problemlos verlaufen. Nicht zuletzt für jene, die vor allem aus wirtschaftlichen Gründen geflohen sind. Es ist bekannt, dass Flüchtlinge inzwischen auch zu Besuchen nach Syrien zurückkehren. Andererseits besteht immer die Gefahr, Opfer von Kollektivbestrafung zu werden, weil man aus einer bestimmten Gegend stamme oder einer bestimmten Bevölkerungsgruppe angehört.
Die Machtkämpfe innerhalb des Regimes sind vor allem Verteilungskämpfe, bei denen es immer weniger zu verteilen gibt. Und auch der Repressionsapparat verlegt seine Energie offenbar zunehmend darauf, die Leute auszupressen. Quellen in den Regimegebieten berichten von regelmäßigen Razzien in Unternehmen und sprechen von einem „geschlossenen Kreislauf der organisierten Ausplünderung“. Man sagt, Syrer einfach nur nach Syrien zu bringen löse das Problem nicht. Es gebe keine Garantie, dass sie in Syrien blieben. „Derzeit müsste man sich eher damit befassen, weitere Migration zu verlangsamen.“
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