Während Israel verzweifelt um seine Existenz kämpft, geben sich die Europäer zwar grundsätzlich solidarisch, setzen mit ihrer Beschwörung humanitärer Gebote im Gaza-Krieg aus zumeist innenpolitischen Gründen aber einen anderen Akzent. Die Hamas nur „nur ein bisschen“ zu vernichten, hat in der Vergangenheit freilich nie geholfen. Der Totalitarismus muss – auch in seiner religiösen Gestalt – mit seinen Wurzeln ausgerissen werden. Hätte Israel das bei früheren Auseinandersetzungen erkannt, in denen sie es nach Raketenangriffen bei temperierten Gegenschlägen beließen, wäre ihnen der 7. Oktober vielleicht erspart geblieben.
Aber auch so wird der Islamismus eine dauerhafte Herausforderung bleiben, für Israel, für Europa und in zunehmendem Maß für fast alle zivilisierten Staaten auf der Welt. Die islamische Welt steht bezüglich Demokratie, Bildung und wirtschaftlicher Lage für alle sichtbar im Hintertreffen. Darüber ist ein Teufelskreis entstanden, denn in diesen Kränkungen der Nachrangigkeit erweisen sich revanchistische islamistische Erzählungen als attraktiv für andere Verlierer der Modernisierungsprozesse und gewinnen daher nicht zufällig global an Bedeutung.
Die Islamisierung Europas seitens muslimischer Fundamentalisten erfolgt heute noch friedlich durch Inanspruchnahme der sozialen Infrastruktur. Die innere Sicherheit ist bereits stark erodiert. Gerechnet auf Bevölkerungsanteile von Juden und Muslimen gab es 2023 122-mal mehr antisemitische als islamfeindliche Hasskriminalität, seit dem 7. Oktober hat sich die Entwicklung akzentuiert. Der sich an Israels Existenz entzündende Judenhass ist nun auch nach Europa exportiert worden.
Sollte Israel dem Druck der vom Mullah-Regime in Teheran angestachelten islamistischen Kampfverbände an seinen Grenzen irgendwann nicht mehr standhalten, würde den Europäern eine Staumauer wegbrechen. Doch statt gegen Islamisten ziehen viele Europäer gegen „islamophobe“ Warner ins Feld. Sie setzen ihre Moral über die Urteilskraft und halten auch die eigenen Grenzen für muslimische Extremisten offen. Bereitwillig gewähren die offenen Gesellschaften des Westens selbsterklärten Feinden freien Zutritt zur Öffentlichkeit und opfern der abstrakten Idee vom globalen Humanitarismus die innere Stabilität.
Der erste direkte Angriff Irans auf Israel scheint mehr Nachdenklichkeit zu erzeugen. Darüber wird auch der Unterschied zwischen autoritären und totalitären Regimen klarer. Mit autoritären Staaten des Nahen Ostens wie Jordanien und Ägypten kann der Westen kooperieren, mit einem totalitären Regime wie dem in Teheran nicht. Dessen absoluter Wahrheitsanspruch bedeutet wesensgemäss Feindschaft und Gewalt gegenüber Andersdenkenden und „Ungläubigen“. Kompromisse können hier allenfalls taktischen Charakter haben.
Sogar westliche Entwicklungshilfe, die den Palästinensern nahezu bedingungslos gewährt wird, ist von erschreckender Naivität. Hetzerische Schulbücher werden von der UN direkt bezahlt, aber auch sinnvolle zivile Hilfen schaffen in den Haushalten der Hamas Raum für militärische Aufrüstung. Zwar haben die Europäer den Palästinensern nichts weggenommen, sondern im Gegenteil deren Fortexistenz durch faktisch bedingungslos vergebene Hilfsgelder erst ermöglicht. Aber auch diese Schutzgelder sind auf Dauer nicht zielführend. Nicht nur Palästinenser selbst, sondern extremistische Kräfte aus der ganzen islamischen Welt nutzen im Westen die Freiheiten des liberalen Systems zur Zelebrierung von Judenhass. An den Universitäten finden sie ebenso Unterstützung wie im kritisch-kreativen Umfeld der Berlinale. Mit den vielen bloß autoritären Regimen im Nahen Osten wäre Koexistenz durchaus möglich, aber der gewalttätige Totalitarismus der Taliban, des Islamischen Staates, der Ayatollahs sowie von Hamas und Hizbullah ist ein anderes Kaliber. Im düsteren Schatten ihrer Bedrohung wäre eine Sicherheitspartnerschaft gegenüber islamistischen Bewegungen gar mit Potentaten geboten.
Da der apokalyptische religiöse Messianismus im Nahen Osten aufgrund seiner auf das Absolute zielenden Eigendynamik nicht zu beschwichtigen ist, muss er eingedämmt werden. Übertragen auf den Nahen Osten wäre die erfolgreiche Strategie des Kalten Krieges anzuwenden: politische Koexistenz mit autoritären arabischen Regimen und gemeinsame Eindämmung des totalitären Islamismus. Die Zähmung des Mullah-Regimes müsste auch die Zähmung von Hamas, Hizbullah und Huthi umfassen.
Damit Israel aus seiner demografisch und strategisch langfristig ziemlich hoffnungslosen Lage herauskommt, braucht es einen Paradigmenwechsel. Und tatsächlich gibt es Hinweise auf einen solchen sich abzeichnenden – in den Abraham Accords mit Saudi-Arabien und den Golfstaaten.
Die moderne wissenschaftlich-technische Zivilisation beruht vor allem auf der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen wie Religion, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die jeweils ihrer Eigenlogik folgen und dadurch erst Leistungsfähigkeit erringen. Die gewaltenteilige Demokratie wäre eine zusätzliche Zivilisationsstufe. Über basale gesellschaftliche Regularien verfügen auch autoritär regierte Staaten. Sie sind daher das kleinere Übel gegenüber den Willkürsystemen des Totalitarismus.
Das Interesse an den Errungenschaften der westlichen Zivilisation könnte helfen, eine Brücke zwischen den Kulturen zu bauen. Selbst das Ringen um vorgeblich territoriale Fragen zwischen Israel und den Palästinensern könnte dadurch auf eine neue Ebene gehoben werden. Teile der arabischen Welt haben sich in der Zustimmung zu den Abraham Accords für die Kooperation mit dem einstigen Feind und damit für eine langfristige eigene zivilisatorische Zukunft entschieden. Meerwasserentsalzung, Begrünung von Wüsten, wirtschaftliche Dynamik und Tourismus erscheinen ihnen wichtiger sind als heilige Kriege. Diese hoffnungsvolle Annäherung hofften die Schergen Teherans mit dem 7. Oktober zu sabotieren. Es scheiden sich von nun an die Wege. In der gesamten islamischen Welt steht eine Entscheidung zwischen pragmatischer Entwicklung und islamistischer Regression an. Beim nächsten Abraham Accord sollten sich die Palästinenser beteiligen, die sich den ersten Versuchen verweigert hatten.
Nach dem 7. Oktober sollte Israel nicht mehr vergessen, dass Grenzsicherung wichtiger ist als die Ausdehnung eigenen Gebietes im Westjordanland. In einer Welt von Feindschaften hat sich die exzessive, das Volk entzweiende politische Beschäftigung mit Fragen der inneren Struktur als fahrlässig erwiesen. Selbst die israelische Regierung hat den religiösen Wahn der Hamas völlig unterschätzt. Staat und Gesellschaft Israels erweisen sich in der Krise als äusserst wehrbereit. Die israelische Widerstandsfähigkeit basiert auf dem positiven Bezug zur eigenen Kultur, Religion und Geschichte. Bei aller kulturellen und ethnischen Pluralität kann Israel auf den Fundamenten der jüdischen Leitkultur aufbauen. Mit der in Europa modisch gepflegten postkolonialistischen Selbstverachtung wäre solches nicht möglich. Wehe, wenn wir hier von einem massiv mit Langstreckenraketen aufgerüsteten Regime wie jenem Irans auch nur erpresst werden sollten, kein nennenswertes Abwehrsystem könnte uns den Schutz gewähren, den Israel gegenüber den Raketen der Mullahs hatten.
Sollte es Europa nicht gelingen, wieder ein positives Verhältnis zu seiner eigenen Geschichte und Kultur zu finden, wird es bald nichts mehr geben, was beschützenswert ist. Als Erstes müssten wir wieder den Unterschied zwischen unserer eigenen und anderen Kulturen begreifen. Nichts von den Freiheiten und Sicherheiten, die wir nach wie vor geniessen, ist selbstverständlich.
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