In den letzten Wochen berichtete MENA Research Center ausführlich über die Demonstrationen und Kundgebungen von „Muslim Interaktiv“ in Deutschland. Heute wollen wir ein wenig genauer darauf eingehen, welcher ideologische Überbau hinter den Extremisten steckt und welche Nähe sie zur Muslimbruderschaft aufweist. Auf den Protestaktionen hörte und las man Parolen, in denen die deutsche Politik insbesondere bezüglich des Gazakrieges kritisiert wurde, und forderten die Errichtung eines islamischen Kalifats. Veranstalter in Hamburg war immer die Bewegung „Muslim Interaktiv“, eine ähnliche Kalifats-Demonstration mit über 3.000 Teilnehmern hatte das Netzwerk „Generation Islam“ Ende letzten Jahres in Essen veranstaltet. Hinter beiden Gruppierungen steht die gleiche Organisation: Hizb ut-Tahrir („Partei der Befreiung“).
Die „Kalifatsbewegung“ ist eine transnationale islamistische Organisation. In der arabischen Welt und Zentralasien wird sie staatlich verfolgt. In Indonesien wurde sie 2017 als Gefahr für den „multireligiösen Charakter des Staates“ verboten. In Europa ist sie seit Langem aktiv. Ihr Anführer lebt in London, wo er von der Meinungsfreiheit profitiert. Die Gründung der Gruppe 1953 in Jordanien stand sowohl im Kontext des arabisch-israelischen Krieges von 1948 als auch des modernen Islamismus, der seinen wichtigsten Impuls durch das Ende des osmanischen Kalifats 1924 erhalten hatte. Ideologisch ist die Hizb ut-Tahrir mit der Muslimbruderschaft verwandt. Ihr Ziel ist die Errichtung eines Kalifats anstelle aller Nationalstaaten in der islamischen Welt und dann auf dem ganzen Planeten. Das Kalifat ist als Gottesstaat konzipiert und soll zurück in ein goldenes islamisches Zeitalter führen. In einer „Verfassung des Kalifats“ von 1963 wird die Herrschaft eines autokratischen, auf Lebenszeit gewählten Kalifen gefordert. Ein semidemokratisches Parlament übernimmt eine Kontrollfunktion. Islamische Gesetzgebung ist Basis aller Entscheidungen. Nichtmuslime dürfen als tributpflichtige „Dhimmis“ im Kalifat leben. Diese Vermischung von theokratischen mit demokratischen Elementen ähnelt der „islamischen Republik“ Iran, ist aber älter als diese. Laut Verfassung „darf“ das Kalifat in Frieden mit nichtmuslimischen Staaten leben. Vertreter der Partei sprechen dennoch oft von der Pflicht zum ewigen Krieg für die Weltherrschaft des Kalifats.
Nach der jüngsten Demonstration von „Muslim Interaktiv“ stellten viele die Frage, wieso diese Gruppe erlaubt sei. Tatsächlich ist Hizb ut-Tahrir in Deutschland verboten. 2003 hatte sie einen Kongress mit Vertretern der NPD veranstaltet. Die Gemeinsamkeit wurde über Antisemitismus und Antiamerikanismus hergestellt und über die Vorstellung, dass Muslime eigentlich nicht zu Deutschland gehören. Das deutsche Innenministerium erließ ein Betätigungsverbot. Trotzdem ist Hizb ut-Tahrir unter anderen Namen weiter aktiv.
Theologisch folgt Hizb ut-Tahrir einem sunnitischen „Weg der Mitte“: Sektiererischer Hass beispielsweise auf Schiiten ist der Gruppe fremd. Ihre Propaganda richtet sich an alle Muslime. Anders als der politische Salafismus strebt sie keine religiöse Neuordnung des Islams an. Der Niedergang der muslimischen Gemeinschaft ist für sie weniger Folge nachlassender Frömmigkeit als des Mangels an politischer Führungskraft. Nationen lehnt die Gruppe konsequent ab, anders als viele Islamisten, die oft an beispielsweise arabische oder türkische Nationalismen angebunden bleiben.
Für die Errichtung des Kalifats existiert eine Strategie, der „Drei-Stufen-Plan“. Die erste Stufe ist der Aufbau von Zellen und Kadern. Mitglieder werden rekrutiert und geschult. Die Hierarchie der Partei bleibt geheim, um Repression zu entgehen. Die zweite Stufe ist die Verbreitung der Ideologie durch Propaganda und die Infiltration der Eliten in muslimischen Ländern. Die dritte Stufe ist die Machtübernahme in der islamischen Welt und damit auch der gewaltsame Kampf. Nach der Gründung des Kalifats wird die Partei aufgelöst. Angeblich ist dieses System aus dem Leben des Propheten Mohammed abgeleitet. Der säkulare Name „Partei der Befreiung“ deutet auf die schwache Stellung des Islamismus in den arabischen Mittelschichten der Fünfzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts hin. Nach dem Scheitern in der arabischen Welt wandelte sich Hizb ut-Tahrir zur globalen Bewegung.
Auch in Deutschland ist die Partei horizontal und vertikal hierarchisiert. Die Einweihung in die sektenartige Bewegung findet erst nach fortgeschrittener Indoktrination statt. Neueinsteiger müssen umfangreiche Lektüre bewältigen. Dadurch wird ein gewisser Elitencharakter garantiert. In den Jahren nach dem offiziellen Verbot eröffneten lokale Zellen zahlreiche Propagandakanäle in den sozialen Medien. Die erfolgreichen Kanäle bilden heute den Kern der Organisation: die Gruppe „Realität Islam“, die eine sogenannte „deutsche Wertediktatur“ anklagt, und die Gruppe „Generation Islam“, die das globale Leid von Muslimen thematisiert. Außerdem die Bewegung „Muslim Interaktiv“, die martialische Aufmärsche wie in Hamburg veranstaltet.
Die Botschaften beruhen auf einem simplen Identitätsnarrativ: Muslime werden gehasst, weil sie Muslime sind. Sie müssen die Reihen schließen und sich wehren. „Realität Islam“ überhäuft Follower mit Content über echte und vermeintliche Bedrohungen der Muslime in Deutschland. Alle gehen von einer „Wertediktatur“ der politisch-medialen Elite aus, die keine „gesellschaftliche Vielfalt“ akzeptiere und die Religionsfreiheit angreife. „Generation Islam“ ist für die Anstachelung von Wut zuständig. Die Gruppe verbreitet permanent Bilder von muslimischen Opfern und nichtmuslimischen Tätern. Palästina, Xinjiang, Myanmar, Syrien, aber auch von bei Islamisten unüblichen Themen wie Saddam Husseins Giftgasangriffen gegen Kurden 1988. So wird eine große Geschichte muslimischen Leids gesponnen, hinter dem stets der „Westen“ steht. Während des aktuellen Gazakrieges postete die Seite KI-generierte Bilder von deutschen Politikern mit dämonischen Gesichtern und blutigen Händen.
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