Die Zahl der Flüchtlinge über die Belarus-Route steigt. Bei europäischen Sicherheitsbehörden wächst die Angst, dass Russlands Präsident erneut zu einer perfiden Strategie greift. Es ist nicht lange her, dass die Bilder von dieser Grenze dramatisch waren. Vor dreieinhalb Jahren hielten zeitweise nur Polizistenketten die Gruppen von Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze zurück. Familien irrten tagelang in der Gegend umher. Einige bezahlten die Zustände mit ihrem Leben. Die Präsidenten Russlands und von Belarus, Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko, verfolgten ein brutales Ziel: Westeuropa mit dem gezielten Lenken von Migranten über die Route Moskau-Minsk unter Druck zu setzen.
In diesen Tagen sind die Nachrichten zwar kleiner, die Bilder weniger verstörend. Dennoch löst die Lage an der EU-Außengrenze in europäischen Sicherheitskreisen wieder Sorgen aus. So berichtet beispielsweise die deutsche Polizei, dass Polizisten vier Asylsuchende aufgegriffen hätten. Die drei Iraner und ein Syrer hätten angegeben, über Belarus und Polen nach Deutschland eingereist zu sein. Zwei Tage vorher waren an gleicher Stelle auch schon vier Personen, zwei jemenitische und zwei syrische Staatsangehörige, aufgegriffen worden. Reiseroute: über Russland und Belarus nach Deutschland. Waren die Einreisen über diesen Weg auch wegen der starken Grenzsicherung in Polen zwischenzeitlich deutlich gesunken, hört die deutsche Polizei seit Kurzem wieder häufiger, dass die Migranten über Moskau oder Minsk nach ins Land gekommen sind.
Nach Recherchen arbeiten Russland und Belarus wieder verstärkt daran, Migranten aus armen und von Krisen erschütterten Regionen über ihre Länder in Richtung Europäischer Union zu schleusen. Einer Statistik zufolge war die Migration über diese Route im Januar und Februar 2024 mit jeweils weniger als 30 Feststellungen so deutlich zurückgegangen, dass sie kaum noch feststellbar war. Doch jetzt steigen die Zahlen wieder deutlich. Im März gab es bereits 412 Feststellungen, im April waren es dann 670 und im Mai schon bis zur Monatsmitte 416. Auch der polnische Grenzschutz registrierte in den vergangenen Wochen bereits eine Zunahme von Personen, die aus Belarus einreisten. In Sicherheitskreisen spricht man erneut von „hybrider Kriegsführung“.  Zwar steigen die Flüchtlingszahlen über verschiedene Fluchtrouten generell zu Beginn des Sommers an. Sicherheitsbehörden sehen hinter dieser Entwicklung jedoch System, denn ohne das Zutun der jeweiligen Regierungen sei ein Anstieg der Route über Moskau und Minsk kaum möglich: Die Einreisen in die Russische Föderation erfolgen überwiegend auf dem Luftweg – die Weiterreise dann auf dem Landweg. Bei den festgestellten Dokumenten mit Belarus-Bezug handele es sich häufig um russische Kurzzeit-Visa, wie sie etwa Touristen, Unternehmer oder Studenten erhalten.
Von den Migranten, bei denen Hinweise auf die Reiseroute vorliegen, besitzt der Recherche zufolge die Hälfte russische Visa, die in ihren Heimatländern ausgestellt wurden. Den Informationen zufolge soll Russland in manchen Ländern bereitwillig Einreisevisa vergeben, um so gezielt Migranten anzulocken. Diese fliegen oftmals nach Moskau oder St. Petersburg, von wo sie weiter nach Belarus reisen – von dort versuchen sie dann, in die EU zu gelangen, wie es aus Sicherheitskreisen zum Modus Operandi heißt.
Im deutschen Innenministerium äußert man sich offiziell noch zurückhaltend, vermutet aber ebenfalls eine steigende Tendenz auf der Fluchtroute über Russland und Belarus. Denn nachdem das Ministerium von Nancy Faeser (SPD) zum Jahresbeginn an der Grenze zu Polen insgesamt noch weniger unerlaubte Einreisen als im Vorjahr registrierte, wendete sich das Blatt im März. Insgesamt zählten die Behörden in diesem Monat mit 1.650 Fällen plötzlich mehr als im Vorjahr (1580 Fälle). Den polizeilichen Erkenntnissen zufolge könnte der registrierte Anstieg hauptsächlich auf die „saisonbedingte Zunahme der Feststellungen mit Bezug zu Belarus zurückzuführen sein“, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums.
Europäische Sicherheitsbehörden registrieren auch, dass sich die Herkunft der Flüchtlinge geändert hat. Anders als noch vor ein paar Jahren stammen die meisten Migranten, die derzeit über Russland und Belarus kommen, nicht aus dem Irak. Die Hauptherkunftsländer sind Syrien und Afghanistan. Der Recherche zufolge stammen viele Personen aber auch aus Somalia, Jemen und aus Eritrea. Die Route könne laut Sicherheitsbehörden in der Regel mit Flug und Visa für Russland und Belarus und anschließender Schleusung gebucht werden – oft mit Folgen wie späteren Abhängigkeiten für die Migranten selbst. Da es sich um eine teure Route handele, würden später etwa Sozialleistungen genutzt, um Schulden bei Schleusern abzubezahlen.
Deutsche Sicherheitsbehörden sehen nicht in der Migration selbst eine Gefahr. Einzelne Staaten missbrauchten das Thema aber, um etwa den „Zielstaat durch eine vermeintliche Überforderung zu delegitimieren und damit zusätzlich zu schwächen sowie seiner internationalen Reputation zu schaden“, heißt es in einem früheren Bericht des Innenministeriums. Die Gefährdung von Menschenleben auf der Flucht nähmen staatliche Akteure bewusst in Kauf. In Einzelfällen habe es einen Bezug von Geschleusten zur Terrormiliz Islamischer Staat gegeben. Das allerdings nur in sehr geringer Zahl.
Auch in Finnland war in den vergangenen Monaten die Sorge über gezielte Schleusungen aus Russland gewachsen. Wie das finnische Innenministerium erklärte, begann Russland im Herbst 2023, Migranten ohne Schengen-Visum an die Grenze zu Finnland zu bringen. Bereits wenige Wochen nach einem Anstieg auf mehr als 500 Personen innerhalb einer Woche schloss Finnland die Grenzübergänge. Finnland hatte erfahren, dass sich mehrere Tausend Personen der Grenze genähert hätten. Offizielle russische Stellen sollen die Anreise von Migranten an die finnische Grenze geplant haben. Die Erkenntnisse stammten unter anderem aus Gesprächen mit Migranten, die aus Belarus kamen, heißt es von finnischer Seite.
In einer vertraulichen Risikoanalyse der EU-Grenzschutzagentur Frontex für 2023/2024 heißt es, die „Wahrscheinlichkeit für das Ausnutzen von irregulärer Migration als ein Druckmittel“ habe „zugenommen“. Auch Frontex sieht Russland am Hebel: Der Kreml besitze demnach die Möglichkeit, Flugrouten zu beeinflussen – gleichzeitig könnten die offiziellen russischen Behörden auch Routen auf dem russischen Land organisieren. Wie ernst man in der Politik die Lage längst nimmt, zeigt ein Besuch von Polens Ministerpräsident Donald Tusk vor gut einer Woche an der Grenze zu Belarus. Tusk warf laut der Nachrichtenagentur AP Russlands Verbündetem Belarus vor, einen hybriden Krieg gegen den Westen zu führen, indem es Migranten ermuntere, die Grenze zur EU zu passieren. Es komme Tag für Tag zu mehr Grenzübertritten, warnte Tusk. Der Premierminister kündigte inzwischen an, Polen werden keine Kosten und Mühen scheuen, die Grenzanlagen auszubauen. Sein Land werde weiter 2,3 Milliarden Euro investieren, um die Grenze zu sichern.
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