Diverse Anordnungen des türkischen Präsidenten sind mittlerweile zur typischen Erscheinung seiner Politik der harten Hand geworden. Fast im Tagestakt veröffentlicht die Administration Erdogans Beschlüsse, in denen der Präsident von den umfassenden Vollmachten Gebrauch macht, die ihm die Verfassung seit dem Wechsel zum Präsidialsystem 2018 gibt. Dabei kann es sich um eine wichtige Personalentscheidung handeln oder um eine Detailfrage wie die Verwendung der türkischen Bezeichnung des Landesnamens Türkiye in Fremdsprachen. Für die Gegner des Präsidenten ist das Regieren per Erlass zu einem Symbol dessen geworden, was sie als Alleinherrschaft Erdogans bezeichnen.
Nun hat das Verfassungsgericht jedoch Teile dieser Praxis als nicht verfassungskonform bezeichnet. Konkret geht es dabei um das Recht des Präsidenten, den Gouverneur der Zentralbank zu entlassen und Universitätsrektoren einzusetzen. Damit gaben die Richter einer Klage der grössten Oppositionspartei CHP von 2018 recht.
Erdogan hat in den vergangenen fünf Jahren fünf Mal die Spitze der Zentralbank neu besetzt, meist wegen Differenzen bei der Zinspolitik. Der türkische Präsident ist ein erklärter Anhänger tiefer Zinsen und bezeichnet diese, entgegen allen ökonomischen Lehrmeinungen, als das wirksamste Mittel im Kampf gegen die Inflation. Das Resultat dieser verheerenden Politik sind der Wertzerfall der Landeswährung Lira und eine unkontrollierte Preisentwicklung.
Nach seiner Wiederwahl vor einem Jahr hat Erdogan allerdings unter Finanzminister Mehmet Simsek eine neue wirtschaftspolitische Führung eingesetzt, die das Ruder herumgerissen hat. Der Leitzins wurde seither von 8,5 auf 50 Prozent angehoben. Auch fiskalpolitisch verfolgt die Regierung einen zurückhaltenden Kurs. Unabhängige Experten erwarten, dass die Inflation von derzeit 75 Prozent bald ihren Scheitelpunkt erreicht haben wird. Wie lange Erdogan diesen Kurs tolerieren wird, ist unter Ökonomen die Gretchenfrage schlechthin. Das Urteil, das sein Recht zur Entlassung des Zentralbankchefs beschneidet, sendet in dieser Hinsicht ein beruhigendes Signal aus. Um dringend benötigte Investoren für das Land zu gewinnen, ist das wichtig.
Auch die Hochschulpolitik ist in der Türkei ein äusserst kontroverses Thema. Säkulare, regierungskritische Kreise kritisieren schon lange den wachsenden Einfluss der Religion auf das Erziehungswesen. Besonders die Ernennung eines konservativen Rektors an der elitären Bogazici-Universität in Istanbul löste einen Sturm der Empörung aus. Seit dreieinhalb Jahren versammeln sich Professoren dort jeden Tag vor dem Rektorat zum stillen Protest. Es dürfte eine der am längsten anhaltenden universitären Unmutsbekundungen dieser Art sein.
Es ist nicht der erste Konflikt zwischen den Verfassungsrichtern und dem Präsidenten. Im Machtkampf zwischen den beiden höchsten Gerichten des Landes, der sich an der Frage der Immunität eines Oppositionspolitikers entzündet hatte, hatte sich Erdogan auf die Seite der Gegner des Verfassungsgerichts geschlagen. Inwiefern das Urteil die Gewaltenteilung tatsächlich stärkt, ist umstritten. Die präsidiale Kommunikationsabteilung stellte kurz nach der Veröffentlichung des Richterspruchs klar, dass dieser dem Präsidenten nicht grundsätzlich die entsprechenden Kompetenzen abspreche. Moniert würden lediglich prozedurale Fragen. Tatsächlich halten die Richter fest, dass es für präsidiale Personalentscheidungen bei der Zentralbank oder an den Hochschulen einer entsprechenden Gesetzesgrundlage bedürfe. Das Parlament hat nun zwölf Monate Zeit, diese zu schaffen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse ist das für das Regierungslager kein Problem.
Auch hat ein anderes Gerichtsurteil deutlich gemacht, dass die juristische Verfolgung politischer Gegner in der Türkei weiter aktuell bleibt. Der Anfang April neugewählte Bürgermeister von Hakkari von der prokurdischen DEM-Partei wurde wegen Mitgliedschaft in einer Terrororganisation zu fast 20 Jahren Haft verurteilt. An seiner Stelle übernahm ein Statthalter der Regierung die Amtsgeschäfte. Dies erinnert an die Lokalwahlen von 2019, nach denen nahezu alle Bürgermeister der prokurdischen Opposition abgesetzt und verhaftet wurden. Bereits vorher waren mehrere prominente kurdische Politiker zu teilweise sehr langen Haftstrafen verurteilt worden.
Durch die Lokalwahlen ist das Machtgefüge im Regierungslager in Bewegung geraten. Teile von Erdogans AKP, die erstmals seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr stärkste Kraft des Landes ist, fordern rechtsstaatliche Reformen und eine Hinwendung zur säkularen Opposition. Ohne deren Unterstützung ist Erdogans Ziel einer neuerlichen Verfassungsreform nicht erreichbar. Gleichzeitig kämpft Erdogans Koalitionspartner MHP um seinen Einfluss auf die Regierungspolitik. Die ultranationalistische Partei ist gegenüber der kurdischen Opposition zu keinerlei Zugeständnissen bereit und fordert ein kompromissloses Vorgehen.
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