Immer häufiger hört man diese Rufe in den Städten der Türkei: „Wir wollen keine Flüchtlinge im Land.“ Von Syrern geführte Geschäfte werden verwüstet. Bildungs- und Freizeitorganisationen für Syrer und Türken sollen laut Dekret der Regierung in Ankara vorerst geschlossen bleiben. „Syrische Frauen und Kinder werden sich in den nächsten Tagen nicht trauen zu kommen“, sagen deren Leiter. Die Arbeit mit Flüchtlingen werde künftig noch schwerer werden, prophezeien sie.
Offiziell leben in der Türkei heute 3,6 Millionen syrische Staatsbürger, dazu dürften noch einige kommen, die nicht registriert sind. In den vergangenen Jahren sind sie zunehmend zwischen die Fronten der türkischen Politik geraten.
Begonnen hatten die Ausschreitungen in Kayseri, nachdem dort ein Syrer wegen des Verdachts, ein mit ihm verwandtes kleines Mädchen sexuell missbraucht zu haben, festgenommen worden war. Weitere Ausschreitungen wurden aus den Provinzen Adana, Şanlıurfa, Kilis, Bursa, Gaziantep, Antalya und Istanbul gemeldet. Auf Videos im Internet sind Randalierer zu sehen, die mit der Hand den Wolfsgruß der rechtsextremen Grauen Wölfe zeigen. Und Frauen, die den Mob klatschend anfeuern. Innenminister Ali Yerlikaya teilte mit, 474 Personen seien festgenommen worden. Ein Polizeichef sagte vor Demonstranten, „ich verspreche euch, dass alle notwendigen Schritte (gegen den mutmaßlichen Missbrauchstäter) unternommen werden, inklusive Abschiebung“.
Maßgeblich befeuert wurden die Ausschreitungen durch parallel stattfindende gewaltsame Proteste gegen das türkische Militär in Nordsyrien. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte waren sie durch die antisyrischen Exzesse in der Türkei motiviert. Die türkische Regierung wittert dahinter gezielte „Provokationen“ von Gegnern der türkischen Syrienpolitik. Bei Zusammenstößen in Afrin und Dscharablos zwischen syrischen Demonstranten und türkischen Soldaten sollen vier Zivilisten getötet worden sein. Türkische Medien berichteten über Angriffe auf türkische Lastwagenfahrer in türkisch besetzten Gebieten. Für besonders viel Empörung sorgten auch Bilder von brennenden und zerrissenen türkischen Flaggen.
Anti-arabischer Rassismus ist in der Türkei kein neues Phänomen. Gerade jetzt entlädt er sich auch wegen der Wirtschaftskrise, angesichts einer dramatischen Inflation, die weite Teile der Mittelschicht verarmen lässt. Ihre Unzufriedenheit mit Erdoğans Regierung findet nun auch Ausdruck im Hass auf die Geflüchteten.
Der Präsident weiß um die Stimmung. An den Unruhen gab er zunächst der Opposition die Schuld, deren „toxischer Rhetorik“ nämlich. Dann hatte Erdogan einen neuen angeblichen Schuldigen ausgemacht, auf den er nach der Kabinettssitzung in Ankara verwies: die kurdische PKK-Miliz. „Wir wissen sehr genau, wer dieses Spiel gespielt hat“, sagte er. „Die separatistische Terrororganisation und ihre Kollaborateure.“ Damit spielte er auch auf aktuelle Vorgänge in Nordsyrien an. Dort, wo die türkische Armee seit Jahren mehrere Gebiete besetzt hält, teils auch kurdische Regionen. Die Türkei hat ihre Militäreinsätze immer mit der angeblichen Bedrohung durch die PKK erklärt, sie unterstützt aber die dortige Opposition, und das seit Beginn des Syrienkrieges.
In der Provinz Idlib halten sich unter dem Schutz der türkischen Truppen mehrere Millionen Geflüchtete aus anderen Landesteilen auf, dort fürchten die Menschen noch immer das Regime von Baschar al-Assad. Der Diktator lässt Idlib nicht bloß bombardieren, er hätte es auch gern zurück unter seine Kontrolle.
Die Ereignisse erhöhen den Druck auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, seinen Kurs in der Flüchtlingspolitik weiter zu verschärfen. Er warf der Opposition vor, durch „vergiftete Rhetorik“ und eine „Politik des Hasses“ zu den Ausschreitungen beigetragen zu haben. Fremdenhass bringe das Land nicht voran. Die Häuser von Menschen in Brand zu setzen, „egal wer sie sind“, sei „inakzeptabel“. Die größte Oppositionspartei CHP hatte 2023 im Wahlkampf um das Präsidentenamt behauptet, sie könne alle Syrer innerhalb von zwei Jahren in das Nachbarland zurückschicken. Unter CHP-Anhängern ist die Lesart verbreitet, Erdogan habe die Syrer in die Türkei eingeladen, um das Land zu islamisieren. Nach dessen Wiederwahl verstärkte seine Regierung den Bau von Abschiebezentren. Sie deportierte Tausende Afghanen und griff nach eigenen Angaben mehr als 19.000 Syrer ohne Papiere auf. In der Türkei haben derzeit laut offiziellen Zahlen 3,2 Millionen Syrer einen Schutzstatus. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl unregistrierter Flüchtlinge. In der wirtschaftlich angespannten Lage mit einer Inflation von 75 Prozent werden sie oft für hohe Mieten und niedrige Löhne verantwortlich gemacht.
Die oppositionelle CHP nutzte die Lage, um die Flüchtlingspolitik zurück auf die Agenda zu bringen. Der stellvertretende Parteivorsitzende Ilhan Uzgel warf Erdogan vor, die Türkei mit seiner Syrienpolitik in ein „Lagerhaus für Flüchtlinge“ verwandelt zu haben. Er ignoriere die „wirtschaftlichen und demographischen Probleme“, die die hohe Zahl an Flüchtlingen mit sich brächte. Die Gewalt gegen Syrer verurteilte Uzgel nicht.
Wie sehr der Präsident unter Zugzwang ist, zeigt sich auch daran, dass er im vergangenen Monat Verhandlungen mit dem syrischen Diktator Baschar al-Assad ins Gespräch brachte, die eine Rückführung der Flüchtlinge ermöglichen sollen. „Es gibt keinen Grund, sich nicht zu treffen“, sagte Erdogan. Assad hat allerdings einen Abzug der türkischen Truppen aus Syrien zur Bedingung gemacht, was nicht im türkischen Interesse ist. Für das Treffen soll es schon Pläne geben, von einem möglichen Termin im September ist die Rede, auf neutralem Gebiet: in Russland oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Erdogan wäre wohl an einem Deal mit Assad interessiert, einer „Normalisierung“, wie die Zeitung Cumhuriyet schreibt.
Sollten die beiden sich zum ersten Mal seit 2010 die Hand geben, dürften sie über die syrischen Geflüchteten reden, über eine Rückkehr zumindest einiger, und im Gegenzug über ein Ende der türkischen Präsenz in Nordsyrien. Also über all das, was die Syrerinnen und Syrer auf beiden Seiten der Grenze fürchten. Und was viele Türken unbedingt wollen.
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