Die deutschen Sicherheitsbehörden warnen schon lange vor der Gefahr der Radikalisierung im Internet, lange bevor der Anschlag von Solingen passierte. Erst im April hatten Terrorfahnder vier Jugendliche im Alter von 15 und 16 Jahren aus Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg festgenommen. Sie seien dringend verdächtig, einen islamistisch motivierten Anschlag geplant zu haben. Laut Ermittlern sollen sie sich im Netz radikalisiert und in Chats über den Bau von Bomben ausgetauscht haben. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul warnte bereits bei der Vorstellung des Lagebildes Islamismus im Frühjahr: „Das Internet wird mehr und mehr zum Hochleistungsmotor für Radikalisierung.“
Wie sich der Täter von Solingen möglicherweise radikalisiert hat, ist noch nicht klar. Dass Issa al-H. vor seiner Bluttat in Solingen weder Polizei noch Verfassungsschutz aufgefallen war, lässt die Behörden auch in diesem Fall inzwischen vermuten, dass er sich als Einzeltäter im Netz radikalisiert haben könnte. Auch im Bundesinnenministerium warnt man nach dem Anschlag von Solingen davor, dass islamistische Terrorgruppen die Strategie verfolgten, „Personen über Propaganda und zum Teil über Anleitung via Chatgruppen zu radikalisieren und zu terroristischen Gewalttaten zu mobilisieren sowie bei eventuellen Tatvorbereitungen zu unterstützen“. Für die Ermittler entsteht damit eine schwierige Lage. Denn ausgerechnet Social-Media-Plattformen und Messengerdienste wie Telegram gelten für deutsche Behörden als schwer zu überwachen.
Früher waren oft Moscheen Orte der Vernetzung für Islamisten Zur Hochzeit des IS vor gut zehn Jahren, als die Terrorgruppe ihre Schreckensherrschaft über Teile Syriens und des Iraks errichtete, hatte sie auch schon ihre Anhänger in Deutschland. Damals verkehrten viele von ihnen, etwa der spätere Breitscheidplatz-Attentäter Anis Amri, noch in Moscheen, in denen den Behörden bekannte Hassprediger auftraten, oder trafen IS-Mittelsmänner persönlich. Treffen, die Verfassungsschutz und Polizei observieren konnten. Inzwischen sei das anders, sagen Insider. Die meisten, die irgendwann Anschlagspläne entwickeln, radikalisierten sich nun über soziale Netzwerke und Chats. Grundsätzlich sind die Sicherheitsbehörden auch dort unterwegs, sie dürfen inkognito in Extremisten-Chatgruppen mitlesen, in konkreten Verdachtsfällen auch private Unterhaltungen und Mails überwachen. Aber das reicht oft nicht, um potenzielle Attentäter rechtzeitig aufzuspüren.
Ob auch der mutmaßliche Täter von Solingen, Issa al-H., mit jemandem über seine Absichten gechattet oder telefoniert hat, ist bislang nicht klar. Die Ermittler haben zunächst kein Handy gefunden, das sie ihm hätten zuordnen können. Aber sie gehen davon aus, dass Videos von einem Vermummten, die der IS nach der Tat über seinen Mediendienst Amaq verbreitet hat, mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tatverdächtigen zeigen. Wenn das stimmt, muss er sie vor dem Anschlag verschickt haben. Aber um zu bemerken, wer mit den Terrorpaten Kontakt aufnimmt, müssten Sicherheitsbehörden die Telekommunikationskanäle des IS und seiner Leute umfassend überwachen.
Deutsche Geheimdienste sind oft darauf angewiesen, dass Dienste aus dem Ausland ihnen Tipps geben. Im vergangenen November zum Beispiel, als zwei Jugendliche sich in einer Chatgruppe zu einem Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Leverkusen verabredet hatten, war das dem österreichischen Geheimdienst DSN aufgefallen. Noch häufiger kommen Hinweise aber von den US-amerikanischen Diensten. Die setzen auf engmaschige Überwachungsmaßnahmen, filtern riesige Datenmengen an Internetkommunikation mithilfe bestimmter Suchbegriffe – in viel größerem Ausmaß und mit weit weniger rechtlichen Schranken als etwa der Bundesnachrichtendienst. Ein deutscher Sicherheitsbeamter, der anonym bleiben will, weist auf weitere Instrumente hin, die seiner Behörde bei der Suche nach Terroristen helfen würden: verpflichtende Speicherfristen für IP-Adressen zum Beispiel, für die auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser kämpft. Denn zuweilen stoßen Ermittler auf verdächtige Chats, können sie aber keinen konkreten Personen zuordnen.
Telekommunikationsanbieter löschen solche Verbindungsdaten wegen der fehlenden Speicherpflicht nach wenigen Tagen. Zudem wünschen sich die Sicherheitsbehörden weniger Schranken für den Einsatz von Spähsoftware. Seit 2021 darf der Verfassungsschutz solche sogenannten Staatstrojaner zur „Quellen-Telekommunikationsüberwachung“ heimlich auf Handys aufspielen und dann Chats mitlesen. Allerdings muss jeder Einzelfall von einem speziellen Gremium genehmigt werden, es muss auch konkrete Hinweise geben, dass die betroffene Person eine schwere Straftat wie einen Anschlag plant. Bei Spionageermittlungen hat dieses Instrument zuletzt häufiger geholfen, zum Beispiel im Fall der beiden im April in Bayreuth festgenommenen Deutschrussen, die mutmaßlich in Moskaus Auftrag spionieren und sabotieren sollten. Die Fahnder wünschen sich mehr Freiheiten, doch vor allem die FDP lehnt das in der Regierungskoalition bislang ab.
Das Bundesinnenministerium signalisiert nun Bewegung in den aktuellen Gesprächen. Das Ressort werde „in die Beratungen auch Vorschläge für moderne Ermittlungsinstrumente für die Sicherheitsbehörden des Bundes einbringen“, sagt eine Sprecherin. Die Regierung befinde sich ja gerade in Beratungen über Maßnahmen zur Bekämpfung von Islamismus, schnellere Abschiebungen und Waffenrechtsverschärfungen. Schließlich wächst auch innerhalb der Bundesregierung der Druck, mehr zu tun. „Immer wieder beobachten wir, dass im Vorfeld terroristischer Taten, sowohl islamistischer wie rechtsextremistischer, das Internet bei der Radikalisierung der Täter eine durchaus entscheidende Rolle spielt“, sagt Konstantin von Notz von den Grünen. Darauf müsse der Rechtsstaat „sehr entschlossen reagieren“, fordert der Politiker.
Das gilt auch für soziale Netzwerke. „Terrorpropaganda muss endlich mit einer gänzlich anderen Entschlossenheit als bisher begegnet werden“, sagt Notz. „Noch immer grassieren online Hass, Hetze und andere klar strafbare Meinungsäußerungen.“ Gezielt würden Unterstützer rekrutiert. Die Sicherheitsbehörden müssten geltendes Recht besser durchsetzen.
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