Recep Tayyip Erdoğan propagiert seit Langem das Ziel, eine „fromme Jugend“ heranzubilden. Das neue Curriculum an türkischen Schulen ist ein weiterer Schritt in diese Richtung. Als das Bildungsministerium die Entwürfe für das Rahmenprogramm und die einzelnen Lehrpläne im April vorstellte, gab es Lehrern, Eltern und Bildungsforschern nur zwei Wochen Zeit, darauf zu reagieren. „Niemand weiß, wer das Curriculum erarbeitet hat. Niemand weiß, warum sie es erarbeitet haben. Es gibt nicht einmal eine Bedarfsanalyse“, sagten viele Lehrer. Es sei die „am wenigsten partizipative, am wenigsten kindzentrierte und am meisten politisierte“ Bildungsreform seit Erdoğans Machtantritt. Die größte Sorge besteht darin, dass die Regierung eine politische Agenda verfolgt, statt Antworten auf die drängendsten Bildungsprobleme des Landes zu suchen. Das Konzept ist offenbar ohne Kenntnis moderner Pädagogik entwickelt worden.
Zwar haben sich die Ergebnisse der Türkei in den PISA-Studien der vergangenen zehn Jahre leicht verbessert. Auch in Infrastruktur wurde viel investiert. Das Land lag aber im jüngsten Leistungsvergleich weiter deutlich unterhalb des Durchschnitts der 38 OECD-Staaten. In Mathematik etwa landeten 39 Prozent der türkischen Schüler im schwächsten Leistungssegment und nur fünf Prozent im höchsten. Im Durchschnitt der Länder für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung waren es 31 und 9 Prozent.
Die letzte Pisa-Studie hat gezeigt, dass es zwischen den verschiedenen Schultypen bei der Wissensvermittlung riesige Unterschiede gibt. Schüler religiös geprägter Einrichtungen liegen im Unterrichtsstoff mitunter um mehrere Jahre hinter gleichaltrigen Kameraden anderer Schulen zurück. Es gibt zwar großen Bedarf an Reformen in der türkischen Bildungspolitik, doch dafür muss man eine Bedarfsanalyse erstellen, Experten konsultieren und die Lehrerschaft einbinden. All das ist nicht geschehen. «Diese Reform ist reine Ideologie. Ich verstehe nicht, wie die Regierung eine wissensbasierte Gesellschaft aufbauen will, indem sie die Schulbildung schwächt», so ein Pädagoge in Istanbul.
Die Einführung des neuen Lehrplans erfolgt etappenweise. Andere Jahrgangsstufen folgen später. Offiziell begründet wurde die Reform unter anderem mit der Notwendigkeit, gewisse Lerninhalte zu vereinfachen, etwa die traditionell hohen Anforderungen in Mathematik, die viele Schüler und Schülerinnen abgehängt zurücklassen. Regierungsgegner argwöhnen allerdings, dass es um viel mehr gehe. Der neue Lehrplan legt den Fokus auf eine ganzheitliche, wertebasierte Bildung, wobei in allen Fächern Bezüge auf die türkisch-islamische Geschichte, Kultur und Tradition des Landes grossen Raum einnehmen. Ebenso wird immer wieder die Eigenständigkeit gegenüber dem Westen hervorgehoben.
Irritiert ist man auch bei der EU, die dem türkischen Bildungsministerium ab 2021 mehr als 25 Millionen Euro für ein Projekt zur Verbesserung der frühkindlichen Bildung bereitgestellt hat. Da das neue Curriculum auch für die Vorschule gelten soll, überschneiden und widersprechen sich beide Projekte. Die politische Absicht der Reform steckt schon im Namen: Bildungsmodell für das Jahrhundert der Türkei. Unter dem Schlagwort vom türkischen Jahrhundert setzt Erdoğan den Umbau des Staates fort. Mittlerweile kündigte der Staatschef an, dass auch das Justizsystem dieser Vision unterworfen werde, mit der er sich als Schöpfer einer neuen Türkei inszeniert.
Das Ministerium plant nun eine neue Welle an Inspektionen. „Sie werden die Hefte der Kinder und die Planungsunterlagen der Lehrer kontrollieren.“ So war es auch früher in der Türkei, bevor der Sektor 2003 ein wenig demokratisiert wurde. Bildung war schon zur Zeit der Republikgründung eine hoch politische Angelegenheit. Atatürk sah darin ein Instrument, um das Land im Schnelldurchlauf zu modernisieren und die Gesellschaft zu säkularisieren. Kopftücher waren an den meisten Schulen noch bis 2014 verboten. Das legte den Grundstein für die Polarisierung der türkischen Gesellschaft, die bis heute nachwirkt. Erdoğan krempelt den Bildungssektor in umgekehrter Richtung um.
2012 kippte er ein 1997 vom Militär erzwungenes Verbot, wonach Schulen zur Ausbildung von Predigern, sogenannte Imam-Hatip-Schulen, erst ab der neunten Klasse besucht werden durften. Seither wurde dieser Schulzweig massiv ausgebaut. Erdoğan selbst ging in seiner Jugend auf eine Predigerschule. Rund drei Prozent der Schüler in der Türkei besuchen religiöse Schulen. Im Jahr 2017 gab es dann eine große Lehrplanreform. Schon das damals eingeführte Curriculum war nach Meinung säkularer Türken nicht mehr mit den Werten des Staatsgründers Atatürk vereinbar. In den Schulbüchern für Geschichte und Sozialkunde wurde seine Bedeutung weniger stark betont als früher, während ein stärkerer Fokus auf „türkisch-islamische Zivilisation“ gelegt wurde. Die Evolutionstheorie wurde aus dem Biologieunterricht gestrichen. Religionsunterricht wurde ausgebaut und so dogmatisiert, dass sich Minderheiten wie Aleviten darin kaum wiederfanden.
Viele Eltern aus der säkularen Mittelschicht schickten ihre Kinder daraufhin auf Privatschulen, die inzwischen ein Fünftel aller Schulen ausmachen. Angesichts der aktuell schwierigen wirtschaftlichen Lage können sich das aber weniger Familien leisten. Der Frust über die Qualität des Unterrichts geht über die Wähler der Opposition weit hinaus. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Konda zeigten sich 68 Prozent der Befragten unzufrieden oder sehr unzufrieden. In Umfragen zur Auswanderungsbereitschaft wird das Bildungssystem oft als einer der Hauptgründe genannt.
Das neue Curriculum geht den Weg der Islamisierung konsequent weiter. Das Ziel „Säkularismus verstehen“ wurde gestrichen. Das Ziel, die Bedeutung von Menschenrechten zu erfassen, ebenfalls. Erdoğan wies die Kritik der Opposition und oppositionsnaher Lehrergewerkschaften mit den Worten zurück: „Wir werden niemandem erlauben, sich zwischen die Kinder dieses Landes und religiöse Werte zu stellen.“
Die türkische Regierung brüstet sich gerne mit Spitzentechnologie „made in Türkiye“ und investiert gezielt in den Aufbau von Zukunftstechnologien. Am sichtbarsten ist der Erfolg im Rüstungsbereich, vor allem bei der Drohnentechnologie. Aber auch das staatlich geförderte Elektroauto Togg wird mittlerweile in Serienproduktion hergestellt. Sogar ein türkisches Weltraumprogramm gibt es seit wenigen Jahren. Eine ideologisch durchsetzte Bildungspolitik ist solchen Ambitionen nicht zuträglich. Es gibt aber auch eine andere Lesart. Erdoğan wird oft als ein äusserst pragmatischer beziehungsweise opportunistischer Politiker dargestellt, der dem Machterhalt alles unterordnet und so schon unzählige Kurswechsel vollzogen hat. Die Geldpolitik fällt einem ein, wo Erdoğan hohe Zinsen lange Zeit als Mutter allen Übels bezeichnete. Doch seit den Wahlen im Mai 2023 hat die Zentralbank den Leitzins von 8,5 auf 50 Prozent angehoben. Auch die Außenpolitik bietet Beispiele für diesen Pragmatismus, wenn etwa Ankara auf Staaten wie Ägypten oder Griechenland zugeht, deren Regierungschefs vor wenigen Jahren noch als Erzfeinde galten.
Allen konjunkturellen Kapriolen zum Trotz gibt es aber langfristige Ziele, die Erdoğan mit strategischer Weitsicht verfolgt. Dazu gehören die Etablierung der Türkei als eigenständiges Machtzentrum in einer multipolaren Welt und der Umbau von Atatürks säkularer Republik in einen Staat, der sich in der islamischen Tradition verankert sieht und sich selbstbewusst vom Westen abgrenzt. Dazu soll auch die Bildungspolitik einen Beitrag leisten.