Der Hamas-Terror des 7. Oktober hat in Europa für ein Ausmaß an Antisemitismus gesorgt, das es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Das zeigt sich besonders deutlich in Ländern mit vergleichsweise grossem jüdischem Bevölkerungsanteil. Zum Beispiel in Frankreich, wo über 400.000 Juden leben – sowohl in absoluten Zahlen als auch im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung am meisten in Europa. Oder in Großbritannien und in Deutschland, wo 300.000 beziehungsweise 125.000 Juden leben. Seit dem 7. Oktober werden Juden in diesen Ländern vermehrt auf offener Strasse beschimpft, bespuckt, geschlagen, jüdische Kinder und Jugendliche in Schulen angefeindet, jüdische Studenten an Universitäten bedroht. Im Netz kursieren unzählige antisemitische Videos, Kommentare, Bilder. Gegen Synagogen und jüdische Einrichtungen wurden mehrere Anschlagsversuche verzeichnet.
Der wohl entsetzlichste Vorfall ereignete sich in Frankreich. Im Juni 2024 vergewaltigen drei Jugendliche im Pariser Vorort Courbevoie ein 12-jähriges jüdisches Mädchen aus antisemitischen Motiven. Dazu kamen Brandanschläge auf Synagogen, wie im Mai in Rouen oder im August in der Nähe von Montpellier. In der Metro, vor Schulen, an ihren Wohnorten wurden Juden geschlagen, geschubst, beschimpft. Bereits am 7. Oktober und in den Tagen danach verzehnfachten sich derartige Vorfälle im Vergleich zu den Vormonaten. 1676 antisemitische Straftaten wurden 2023 der Polizei in Frankreich gemeldet. Dies folgt aus der gemeinsamen Erhebung des französischen Innenministeriums und des Service de Protection de la Communauté Juive (SPCJ), einer Organisation zum Schutz jüdischer Institutionen in Frankreich. Das sind viermal so viele Straftaten wie 2022, wobei drei Viertel der Taten auf die Monate Oktober, November und Dezember fielen. Offizielle Statistiken für 2024 wurden noch nicht veröffentlicht. Im August nannte Innenminister Gerald Darmanin aber 887 antisemitische Taten, die in der ersten Jahreshälfte begangen wurden – eine Verdreifachung gegenüber dem gleichen Zeitraum 2023.
Antisemitismus beschäftigte Frankreich auch politisch, insbesondere während des Wahlkampfs für die Parlamentswahl im Sommer. Die linkspopulistische La France Insoumise (LFI) und vor allem ihr Gründer Jean-Luc Mélenchon sorgten für Schlagzeilen. Etwa mit der verharmlosenden Aussage Mélenchons Anfang Juni, der Antisemitismus in Frankreich bleibe ein marginales Problem, oder bei der verbalen Auseinandersetzung zwischen zwei Parlamentsmitgliedern, als ein LFI-Mitglied einen jüdischen Amtskollegen beschimpfte als „Schwein“ und im „Schlamm des Völkermordes“ steckend. Beim ersten Wahlgang am 30. Juni landete der Nouveau Front Populaire, zu dem LFI gehört, auf dem zweiten Platz, direkt hinter dem rechtsnationalistischen Rassemblement national. Dieses positioniert sich heute proisraelisch, hat jedoch eine klar antisemitische Vergangenheit.
In Deutschland haben seit dem 7. Oktober vor allem die antisemitischen Übergriffe aus dem linksextremen und islamistischen Spektrum zugenommen, berichtet Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland: „Sich als Jude erkennen zu geben, ist noch problematischer geworden.“ Juden, die eine Kippa trügen, seien zwar teilweise schon früher auf der Strasse angegriffen worden. „Doch jetzt kann schon eine Halskette mit dem Davidstern ausreichen, um zur Zielscheibe zu werden.“ Schuster erinnert daran, wie in Berlin Häuser mit aufgemalten Davidsternen markiert wurden, in denen angeblich Juden leben.
Ein Blick in die offiziellen Zahlen zeigt, wie sehr antisemitische Straftaten seit dem 7. Oktober zugenommen haben. Das deutsche Bundeskriminalamt erfasst sie im Rahmen seiner jährlichen Statistik zur politisch motivierten Kriminalität. Während sich die Straftaten normalerweise zwischen 200 und 300 pro Monat bewegen, stiegen sie im Oktober 2023 auf rund 1.300. Es handelt sich um Straftaten, die der Polizei bekannt sind, weil sie zur Anzeige gebracht wurden. Über die Hälfte aller 5.164 antisemitischen Straftaten im vergangenen Jahr ereigneten sich laut BKA nach dem 7. Oktober. Laut einer Polizeistatistik, die die Linken-Abgeordnete Petra Pau abgefragt hatte, wurden in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 1.508 antisemitische Straftaten verübt. Dabei handelt es sich jedoch nur um vorläufige Zahlen, wie das Innenministerium klarstellt: Viele Straftaten könnten noch durch Nach- oder Änderungsmeldungen „teilweise erheblichen Veränderungen unterworfen sein“, heisst es.
Neben Beleidigungen oder tätlichen Übergriffen kam es auch zu Anschlagsversuchen. So wie in den Morgenstunden des 18. Oktober, als Unbekannte zwei Molotowcocktails in die Richtung eines jüdischen Gemeindehauses in Berlin warfen. Die Molotowcocktails waren auf dem Trottoir zerschellt, Sicherheitskräfte konnten sie schnell löschen können. Die Täter nahmen in Kauf, dass Menschen, die dort wohnen durch den Anschlag hätten verletzt werden können. Seither wurde der Polizeischutz verstärkt. Gemeindemitglieder verbergen die Kippa unter einer Basecap, um nicht als Juden erkannt zu werden.
Die deutsche Politik bekundet seit dem 7. Oktober ihre Solidarität mit der jüdischen Gemeinschaft. Nicht nur die Sicherheit Israels sei deutsche Staatsräson, so die Botschaft, sondern auch der Schutz jüdischen Lebens. Seither hat die Innenministerin Nancy Faeser den Schutz vor Synagogen verstärkt und ein Betätigungsverbot gegen die Hamas sowie gegen einen Ableger der linksextremistischen palästinensischen Terrorgruppe PFLP ausgesprochen. Doch ob das ausreicht, damit das Leben für Juden in Deutschland dauerhaft sicher bleibt, daran bestehen grosse Zweifel.
Was für Deutschland und Frankreich gilt, trifft auch in Grossbritannien zu. 517 antisemitische Hassverbrechen erfasste die Polizei in London im Oktober 2023, doppelt so viele wie im Gaza-Krieg von Mai 2021. Antisemitismus fällt in der Londoner Polizeistatistik in die Kategorie Hassverbrechen, also Straftaten, die gegen eine Person wegen ihrer Ethnie, Religion oder sexuellen Orientierung verübt werden. Auch der Community Security Trust (CST), eine jüdische Nichtregierungsorganisation, erfasst antisemitische Vorfälle im Vereinigten Königreich. Die Zahlen publiziert der CST halbjährlich. Sie basieren auf Vorfällen, die von Zeugen oder Betroffenen dem CST gemeldet werden. Daneben unterstützt der CST jüdische Gemeinden und Organisationen in Sicherheitsfragen.
2023 wurden dem CST 4.103 antisemitische Vorfälle gemeldet, mehr als doppelt so viele wie im Durchschnitt der Vorjahre. 2.699 dieser Vorfälle ereigneten sich am oder nach dem 7. Oktober. Im ersten Halbjahr 2024 registrierte der CST 1.978 Meldungen antisemitischer Vorfälle, das waren mehr, als der CST normalerweise in einem ganzen Kalenderjahr verzeichnet. Das Thema Antisemitismus und Nahost-Konflikt beschäftigt auch die britische Politik. Keir Starmer, der britische Premierminister und Vorsitzende der Labour-Partei, hat versucht, den Antisemitismus in seiner Partei auszumerzen, der unter seinem Vorgänger Jeremy Corbyn grassiert hatte. Allerdings hat Labour mit Starmers proisraelischem Kurs im Gaza-Krieg erheblich an Unterstützung bei ihrer bis anhin loyalen muslimischen Wählerschaft eingebüsst. Im Frühling triumphierte der Linkspopulist George Galloway im stark muslimisch geprägten Wahlkreis Rochdale in Nordengland bei einer Ersatzwahl ins Unterhaus. Bei der Gesamterneuerungswahl im Juli wurden Corbyn und mehrere unabhängige muslimische Kandidaten ins Parlament gewählt, die mit einer betont antiisraelischen Positionierung auffallen.
Eine Beobachtung fällt in allen drei Ländern auf: Ihren Höhepunkt erreichten die antisemitischen Vorfälle in den Tagen direkt nach dem Überfall der Hamas – noch bevor Israel seine Bodentruppen in den Gazastreifen verlegte. Zu einem Zeitpunkt also, als in den sozialen Netzwerken und den Medien Bilder des Hamas-Überfalls, der Mordtaten in den Kibbuzim und der Entführungen kursierten. Und nicht jene des Leids und des Hungers der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Danach pendelten sich die antisemitischen Vorfälle auf einem höheren Niveau als vor dem 7. Oktober ein.
Die Daten aus Grossbritannien, Frankreich und Deutschland zeigen also: Die grösste Motivation für viele der Vorfälle war nicht die militärische Reaktion Israels im Gazastreifen, sondern das durch die Hamas verübte Massaker. Die Täter demonstrierten damit wohl ihre Unterstützung für den terroristischen Überfall der Islamisten.