Polens Ministerpräsident Donald Tusk hat auf dem Parteitag seiner liberal-konservativen Bürgerkoalition (KO) eine Kehrtwende in der Migrationspolitik angekündigt. „Eines der Elemente der Strategie wird die vorübergehende territoriale Aussetzung des Rechts auf Asyl sein, und ich werde fordern, dass Europa das anerkennt“, sagte er. Polen wisse sehr wohl, wie der belarussische Staatschef Lukaschenko, Russlands Präsident Putin sowie Schlepper und Menschenhändler das Asylsystem ausnutzten, um es gegen den Westen zu missbrauchen. „Das aber widerspricht genau dem Wesen des Rechts auf Asyl.“ Sein Land werde keine europäischen Pläne respektieren oder umsetzen, die Polens Sicherheit verletzten. Tusk erwähnte auch den EU-Migrationspakt, den Polen mit Ungarn im Frühjahr abgelehnt hatte.
Tusks liberalkonservative Regierung hat die Politik übernommen, nach einer kurzen Unterbrechung richtete sie im Juni selbst die militärische Sperrzone erneut ein. Sie sieht angesichts steigender Migrationszahlen an der Grenze keine Alternative: Laut Frontex haben die illegalen Übertritte aus Weissrussland heuer um fast 200 Prozent zugenommen. Auf den meisten anderen europäischen Routen sank sie. Laut der Grenzwache versuchten dieses Jahr bisher 28.000 Personen illegal nach Polen zu kommen, so viele wie seit 2021 nicht mehr. Die Behörde räumt auch ein, in drei Jahren 9.000 Pushbacks durchgeführt zu haben.
Seit Jahren schon holt Russland Flüchtlinge ins Land mit dem Versprechen, dass sie von dort auf schnellstem Weg in die Europäische Union gelangen. Sie werden jedoch Schleppern ausgeliefert, die sie für viel Geld über Belarus an die EU-Grenze treiben. Das Ziel ist die Destabilisierung der EU. Polen baut deshalb die eigene Grenze zu Belarus massiv aus und schiebt auch Migranten zurück. Diese irren dann mitunter monatelang umher, weil sie auf belarussischer Seite nicht zurück ins Land gelassen, sondern wieder in Richtung Polen getrieben werden. Menschenrechtsorganisationen kritisieren diese Praxis, auch weil zahlreiche Flüchtlinge ums Leben gekommen sind. Der Grenzzaun konnte den Zustrom zwar bremsen, aber nicht völlig unterbrechen. Einen Teil der Grenze bilden der Fluss Bug sowie Sümpfe, die Flüchtlinge trotz Lebensgefahr zu überwinden versuchen. Zudem gibt es immer wieder Versuche, den Zaun zu unter- oder überqueren, wobei es zu Zusammenstößen mit der polnischen Grenzpolizei kommt.
„Polen soll sicher sein, die Polen sollen sich sicher und frei fühlen“, erklärte Tusk. Den Auftritt nutzte er zugleich, um mit der Migrationspolitik und insbesondere der „Visa-Affäre“ der Vorgängerregierung unter der rechtsnationalen PiS abzurechnen. Sie habe in den acht Jahren ihrer Regierung „die Kontrolle über die Migration verloren“, indem sie „Hunderttausenden Menschen aus Asien und Afrika den Weg nach Polen geebnet“ habe. „Sie haben ein System aufgebaut, das teilweise korrupt war und das einen völlig unkontrollierten, zum Teil sogar privatisierten Zustrom von Hunderttausenden von Migranten ermöglicht hat.“ Dabei spielte er auf einen bisher noch unveröffentlichten Bericht des Obersten Rechnungshofes an, aus dem die Zeitung „Gazeta Wyborcza“ zitiert hatte. Danach sind in den PiS-Regierungsjahren mehr als 366.000 Visa für den Schengenraum an Menschen aus Asien und Afrika ausgestellt worden, wobei das Außenministerium auf die polnischen Konsulate Druck ausgeübt habe, es mit Überprüfungen nicht zu genau zu nehmen. Dabei soll auch in erheblichem Umfang Schmiergeld geflossen sein. Es habe „im Außenministerium einen intransparenten und korrupten Mechanismus zur Beeinflussung von Konsulaten“ gegeben, kritisierte der Rechnungshof dem Blatt zufolge. Demnach hat Polen zwischen 2018 und 2023 die meisten Visa für die EU erteilt und auch nach dem Überfall Russlands noch 1838 russischen Bürgern die Einreise erlaubt, was gegen die Sanktionspolitik der EU verstieß.
Tusk kündigte an, „die illegale Migration in Polen auf ein Minimum“ zu begrenzen. „Wir werden diese Praktiken abschaffen, um die volle Kontrolle darüber zurückzugewinnen, wer zu uns ins Land kommt und warum.“ Als „Negativbeispiel“ nannte er Deutschland, wo die Integration von Flüchtlingen unterlassen worden und private Interessen über das Wohl der Gesellschaft gestellt worden seien. Das werde er in Polen nicht zulassen. Statt immer neue Arbeitsmigranten ins Land zu holen, versprach Tusk, im Ausland lebende Polen zurückzugewinnen. „Durch den Aufbau des Images eines sicheren Landes wird Polen auch zu einem attraktiven Ort für alle Polen, die zurückkehren wollen“, erklärte der Regierungschef. Mit der Migrationsstrategie, die er dem Kabinett vorstellen will, werde Polen „nicht nur der coolste, sondern auch objektiv der sicherste Ort in Europa sein“.
Im September ist die Zahl der Asylanträge wieder signifikant gestiegen, was mit Deutschland zu tun hat: Bis vor kurzem reisten jene Migranten, die es über die Grenze schafften, rasch nach Westen weiter. Doch seit Berlin die Grenzen stärker kontrolliert und im September gar mit Rückweisungen begonnen hat, beantragen immer mehr Asyl in Polen.
Die Zahlen liegen im Vergleich mit vielen westeuropäischen Ländern zwar auf einem tiefen Niveau, steigen aber rapide an. So nahm Warschau bis Ende September 12.300 Asylanträge entgegen, knapp 5.000 allein seit Juni. Im gesamten Vorjahr waren es nur 9.500 gewesen. Zwei Drittel der Anträge stammen von Ukrainern, Weissrussen und Russen, nur jeweils einige hundert von Somaliern, Eritreern und Syrern. Letztgenannte haben jedoch in kurzer Zeit stark zugenommen. „Wenn zu viele Leute aus anderen Kulturen da sind, fühlen sich die Einheimischen bedroht“, sagt Tusk und setzt damit den harten Ton in der Asyldebatte. Beobachter erklären diesen auch dadurch, dass er seine Partei für den 2025 anstehenden Wahlkampf um die Präsidentschaft positionieren will.
UNO, Europarat und Nichtregierungsorganisationen kritisieren die Abschottung als illegal, Migranten erhalten an der Grenze kaum die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen. Da das Recht darauf somit bereits eingeschränkt ist, stellt sich die Frage, inwiefern Tusks neue Ankündigung weiter geht als der Status quo. Unter Kontrolle ist die Lage an der Grenze nicht. Seit 2021 kamen mindestens 82 Migranten und ein Grenzsoldat ums Leben. Auch die Wiedereinführung der Sperrzone hat die Zahl der Grenzübertritte nur vorübergehend gesenkt.