Rüstungsexporte in die Türkei waren für die Bundesregierung lange ein heikles Thema. Doch als der deutsche Regierungschef Olaf Scholz letzten Monat in Istanbul gemeinsam mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor die Presse trat, klang er so, als habe es solche Bedenken nie gegeben. „Die Türkei ist Mitglied der NATO“, sagte er. Da sei es „selbstverständlich“, dass Deutschland an das Land immer mal wieder Waffen liefere. „Solche Entscheidungen haben wir auch in jüngster Zeit getroffen, und es wird da auch weitere geben.“
Seit Jahren spricht die Türkei das Thema bei jedem Besuch eines deutschen Politikers hinter verschlossenen Türen an. Es gab nie ein offizielles Embargo. Stattdessen wurden Anträge für Ausfuhrgenehmigungen türkischen Angaben zufolge seit etwa fünf Jahren verschleppt. Das hatte mit türkischen Drohgebärden gegen Griechenland und mit türkischen Militäroffensiven in Syrien und im Irak zu tun. In Ankara sah man die deutsche Regierungspartei der Grünen als größten Hemmschuh in dieser Frage. Nun scheint es in Berlin eine Neubewertung zu geben. Scholz nannte es einen „guten Schritt“, dass man die Rüstungskooperation „wiederbelebt“ habe. Erdoğan zeigte sich zufrieden, dass man „Probleme“ bei der Beschaffung von Rüstungsgütern jetzt hinter sich gelassen habe.
Zwei Wochen vor dem Besuch des Kanzlers hatten deutsche Medien berichtet, dass der geheim tagende Bundessicherheitsrat Lieferungen im Wert von mehr als 250 Millionen Euro genehmigt habe, darunter Flugabwehrraketen und Torpedos für die türkische Marine und Güter für die Modernisierung von U-Booten und Fregatten. Bewegung gibt es auch bei Kampfflugzeugen des Typs Eurofighter Typhoon, die Deutschland in einem Konsortium mit Großbritannien, Spanien und Italien herstellt. Bislang hatte die Bundesregierung nach türkischen Angaben entsprechende Verhandlungen blockiert. Nun sagte Scholz, die britische Regierung treibe dieses Projekt voran. Es stehe aber erst am Anfang. Die Zeitung „Yeni Şafak“ berichtete zudem, ein Team des Konsortiums sei bereits für technische Gespräche in der Türkei eingetroffen.
Mit ihrer neuen Offenheit für Rüstungslieferungen an Ankara hat die Bundesregierung offenbar Griechenland aufgeschreckt, das fürchtet, im Rüstungswettlauf mit dem Erzfeind Türkei ins Hintertreffen zu geraten. Vielleicht auch deshalb lobte Scholz, dass sich die Beziehungen zwischen Athen und Ankara zuletzt merklich entspannt haben. Das liege ihm „am Herzen“.
Vor seiner Abreise war in Berlin von einem „Neustart“ im Verhältnis zur Türkei die Rede gewesen. Jahrelang war es von scharfer Kritik an Erdoğans autokratischem Gebaren geprägt.
Bei ihrem Abschiedsbesuch vor drei Jahren sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, „wir haben hier noch eine Menge Schwierigkeiten zu überwinden“. Von alldem sprach Scholz nicht. Der Grund: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat Berlins Blick auf den NATO-Verbündeten Türkei verändert. Es geht um die Sicherung der Südflanke des Militärbündnisses und darum, angesichts der erlahmenden Unterstützung für Kiew Kräfte zu bündeln. Das gilt erst recht für den Fall einer möglichen weiteren Präsidentschaft Donald Trumps in den USA. Deutschland und die Türkei stünden „eng an der Seite der Ukraine“, sagte Scholz. Ein bemerkenswerter Satz, wo doch Erdoğans enger Draht zum russischen Präsidenten bisweilen als Problem betrachtet wird. Seine Gesprächskanäle in den Kreml könnten sich aber noch als nützlich erweisen. Deutschland sei darum bemüht, „auszuloten, wie es gelingen kann, dass dieser Krieg nicht immer weitergeht“, sagte Scholz.
Seit seiner Wiederwahl im vergangenen Jahr bemüht sich Erdoğan, vor allem wegen der wirtschaftlichen Probleme seines Landes, um Entspannung in den Beziehungen zu Europa. So auch am Samstag. Er nannte Scholz seinen „werten Freund“ und hieß die deutsche Presse auf Deutsch „willkommen“. Kritische Themen wie den Streit um das Atomkraftwerk Akkuyu, das der russische Staatskonzern Gazprom in der Türkei baut, klammerte er aus. Kürzlich hatte er sich bitter darüber beklagt, dass Turbinen für das Atomkraftwerk „im deutschen Zoll“ aufgehalten würden. Laut türkischen Medien wollte Erdoğan darüber mit Scholz sprechen. Doch vor der Presse sagte er dazu kein Wort.
Zur Menschenrechtslage in der Türkei verlor Scholz kein Wort. Aber Themen, die die beiden Länder trennen, gibt es noch immer. Beim Thema Nahost sagt der Kanzler den Standardsatz, es sei „ja kein Geheimnis“, dass man darauf unterschiedlich blicke. Erdoğan nennt die israelische Kriegsführung wie so oft einen „Völkermord“, er spricht von „Massakern“ und unterstellt, Israel zeige „fast schon eine Art Lust am Töten“. Kurz vor Scholz’ Ankunft am Bosporus hatte der türkische Außenminister Hakan Fidan eine Delegation der Hamas empfangen. Den getöteten Jahia Sinwar hatte Fidan dabei einen „Märtyrer“ genannt. Der deutsche Regierungschef widersprach daraufhin Erdoğans Völkermord-Vorwurf. Israel dürfe sich verteidigen, sagt er, müsse sich aber auch ans Völkerrecht halten. Es brauche schnell einen Waffenstillstand, die Vorschläge lägen auf dem Tisch. Damit war das Thema abgehakt, weder Scholz noch Erdoğan mochten sich im Nahostkonflikt verlieren.
In Sachen Migration haben sich die Prioritäten verschoben. In Berlin weiss man, dass Erdoğan zwar rhetorisch unberechenbar ist, die Türkei mit ihrer geopolitischen Lage zwischen Ukraine und Nahost aber hilfreich sein kann. Gleichzeitig mit Scholz war zum Beispiel der iranische Außenminister in Istanbul. Und ist Erdoğan nicht verlässlich? Gerade was die anderen Themen der Zeit neben dem Nahostkonflikt anbelangt: den Ukraine-Krieg, aber auch die Migration.
Wie die Bundesregierung mit der Türkei umgeht, erzählt also viel davon, wie sich die Prioritäten verschoben haben. Es geht um Realpolitik, um Stabilität in einer unruhigen Region. Scholz lobt das Land ausführlich dafür, wie viele Geflüchtete es aufgenommen hat, und die EU wolle dabei weiter finanziell helfen. Erdoğan sagt, die „Türen der Türkei“ stünden „immer offen“, auch beispielsweise jetzt für Menschen aus Libanon. Die Frage, wann die Türkei denn nun wie viele ihrer Staatsbürger aus Deutschland zurücknimmt, deren Asylanträge die deutschen Behörden abgelehnt haben, sie spielt an diesem Istanbuler Nachmittag keine Rolle. Im Gegenteil, Erdoğan fordert mal wieder die Visafreiheit für Türkinnen und Türken in Europa. Man arbeite an schnelleren Visaverfahren, sagt Scholz darauf nur.
Für Details ist es in der neuen deutsch-türkischen Freundschaft offenbar noch zu früh, für wirkliche Fortschritte auch. Erdoğan aber wirkt zufrieden mit seinem neuen Verhältnis zu Scholz, dem rationalen Deutschen. Am Ende ein Lächeln und Auf Wiedersehen.