Von Yussuf Abdel Hadi, Hamburg
„Dieses Land hat mich verloren“, sagt eine deutsch-palästinensische Unternehmensberaterin. „Ich habe das Vertrauen in Deutschland, die Politik und Medien verloren“, sekundiert eine palästinensische IT-Beraterin in Berlin. „Was ist nur los mit diesem Land?“, fragt ein Ingenieur, einst aus Libanon geflohen, seit mehr als dreissig Jahren wohnhaft in Frankfurt. Sie alle wollen nicht namentlich genannt werden – aus Angst vor Anfeindungen, wie so häufig, wenn es um den Nahostkonflikt geht.
Die Millionen Muslime in Europa sind keine homogene Gruppe, die kulturellen Prägungen sind verschieden, die Familiengeschichten vielfältig, die politischen Präferenzen wechselhaft. Doch wer sich seit dem 7. Oktober unter ihnen umhört, bekommt solche Sätze quer durch alle Schichten zu hören, unabhängig vom Alter, Geschlecht, Bildungsgrad und Beruf.
Die in Europa lebenden Muslime wenden sich nicht einfach nur ab. Im Zuge des Gaza-Krieges ist eine neue Parallelgesellschaft entstanden, die wir nicht wollen können. Besonders ausgeprägt ist dieser Entfremdungsprozess bei jungen, aufstrebenden und akademisch gebildeten Muslimen. Ähnliches lässt sich in den Vereinigten Staaten beobachten. Wahlforscher sprechen schon von einer „Generation Gaza“ – einer Generation, die den westlichen Demokratien verlorenzugehen droht.
Seit dem Überfall der islamistischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 haben Muslime das Gefühl, unter Generalverdacht zu stehen. Schon zuvor fühlten sich viele an die Zeit nach dem 11. September erinnert. Damals wurde von Muslimen das Bekenntnis verlangt, den Terror von Usama bin Ladin zu verurteilen. Heute haben sich Muslime von Antisemitismus, der Hamas und nun auch von den Messermorden des IS zu distanzieren – als hätten sie diese jemals gebilligt.
Das schmerzt viele, denn vieles hallt nach. Gehört der Islam zu Europa oder nicht ? Schafft sich Europa ab, weil hier zu viele Muslime leben? Und welche Muslime gehören wirklich dazu? Die Unterstellungen aus der Politik mag man mit etwas Anstrengung überhören, die reale Bedrohung nicht: Kein Muslim in Deutschland hat beispielsweise die NSU-Mordserie, den Anschlag von Hanau und die lange Liste rechtsextremer Angriffe auf Unterkünfte für Geflüchtete vergessen. Das ritualisierte Abfragen, die stumpfen Aufforderungen zur Distanzierung müssen auf sie wirken wie ein Trick der Mehrheitsgesellschaft. Die Botschaft war und ist: Ihr gehört nicht wirklich dazu.
Und ja: Ein Migrationshintergrund lässt sich nicht einfach ablegen. Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, die besonders in Deutschland stärker ausgeprägt ist als in Ländern, in denen die Einwanderung zur Geschichte gehört, kann ein Migrant nur um den Preis der Selbstverleugnung zufriedenstellen. Eine Restloyalität, ein Verantwortungsgefühl und eine Verbundenheit mit dem Heimatland der Eltern oder Grosseltern bleibt bei den meisten bestehen.
Es ist, sehr oft, kein ungetrübt schönes Gefühl, oft wird es überschattet von der Ohnmacht über die Zustände im Land der familiären Herkunft. Erdogan mag sich als starker Mann inszenieren, doch die Inflation und sein brutales Vorgehen in den Kurdengebieten zeigen, welchen Preis seine Herrschaft hat. In den arabischen Ländern ist aus dem Frühling ein Arabischer Winter geworden. Die Folgen: Kriege und Instabilität, Repressionen und Armut. Libanon, Libyen und Syrien sind „failed states“
Gaza ist zerstört. In vielen Ländern des Nahen Ostens, auch Afrikas gibt es keine Ordnung, keine Demokratie, keine Freiheit. Dagegen wirkte Europa mit seinen Werten, seiner Rechtsstaatlichkeit und seiner Liberalität wie ein Schutzraum. Umso schmerzhafter ist hier das Ausgestoßensein, umso bitterer die doppelte Fremdheit: fremd in Europa und fremd in den Heimatländern der Eltern.
Das Gefühl, nicht angenommen zu werden, ist nur das Ende einer langen historischen Erfahrung. Verletzungen und der Eindruck der Unterlegenheit prägen das Verhältnis der islamischen Welt mit dem Westen seit Jahrhunderten. Der britisch-französische Kolonialismus legte den Grundstein für einen Grossteil der Unordnung im Nahen Osten, Grenzen wurden willkürlich gezogen. Die Militärinterventionen zogen sich bis heute weiter, der desaströse Irakkrieg (2003) und der Folterskandal von Abu Ghraib wirken noch nach. Wenn heute im Internet Bilder von gefesselten, halbnackten palästinensischen Männern zu Füssen israelischer Soldaten aus Gaza verbreitet werden, gibt es kaum einen Araber, kaum einen Muslim, der nicht an Abu Ghraib denkt.
Inzwischen ist Israel die am stärksten spannungsgeladene Projektionsfläche für diesen Konflikt. Aus arabischer Perspektive ist das Land seit seiner Gründung ein Symbol arabischer Schwäche und Uneinigkeit. Selbst als Allianz gelang es arabischen Staaten nicht, seine Gründung 1948 zu verhindern, 1967 eroberte Israel gar im Sechstagekrieg das Westjordanland und Ostjerusalem und besetzte Gaza, die ägyptische Sinai-Halbinsel und die syrischen Golanhöhen. Arabische Kommentatoren sprechen von der Mutter aller Niederlagen. Zugleich ist es aber auch die Quelle aller Propaganda. Radikale Islamisten und Antisemiten wissen, dass der Nahostkonflikt viele Muslime emotionalisiert, sie achten darauf, dass sich die Wunden nie schliessen.
Das „Palästina-Problem“ bietet eine Projektionsfläche, bei der viele – ob Kurden, Türken, Araber oder Afrikaner – ihren Wunsch nach Befreiung und Veränderung, aber auch ihren Groll gegenüber dem Westen zum Ausdruck bringen können. Was alle eint, ist enorme Solidarität mit den Palästinensern, alle können sich mit dem schier unermesslichen Leid der Opfer in Gaza identifizieren. Diese Identifikation mit den Palästinensern als „universelle Opfer“ ist das grösste Antriebsmoment.
Zur Kehrseite gehört allerdings, dass man oft eine unheimliche Kälte trifft, wenn es um israelische und jüdische Opfer geht. Die meisten lehnen die Greueltaten der Hamas ab, jedoch gibt es auch Hunderte, die das genozidale Abschlachten von Juden feiern. Als die Hamas Israel überfiel, liess das palästinensische Netzwerk „Samidoun“ Süssigkeiten auf der Sonnenallee im Berliner Stadtteil Neukölln verteilen, „zur Feier des Sieges des Widerstands“, wie es hiess. Und es gibt deutlich mehr, Tausende, die das Zelebrieren des Mordens, der Massaker, des Grauens nicht sehen oder nicht sehen wollen.
In Großbritannien kam eine Umfrage des neokonservativen Think-Tanks Henry Jackson Society im April zum Ergebnis, dass nur ein Viertel der britischen Muslime daran glauben, die Hamas sei für die Morde und Vergewaltigungen des 7. Oktober 2023 verantwortlich. Gut gebildete, junge Muslime gaben am häufigsten an, die Hamas habe die Gewalttaten nicht angerichtet. Unter den 18- bis 24-Jährigen äusserten sich 47 Prozent entsprechend, unter muslimischen Akademikern 40 Prozent.
Fest steht: Der Antisemitismus, besonders der muslimische, nimmt seit dem 7. Oktober zu. Jüdische Kinder, die unter Polizeischutz in die Schule gehen müssen oder gar zu Hause bleiben, weil sie Angst haben, beleidigt, bespuckt, geschlagen zu werden. Jüdische Einrichtungen, die zur Zielscheibe von Angriffen und Terrorismus werden. Doch Muslime teilen in den sozialen Netzwerken fast ausschliesslich Videos und Bilder aus dem zerstörten Gaza – für die andere Seite, das Leid der Geiseln, der Angehörigen der Opfer vom 7. Oktober, ist da wenig Platz. Und den Medien traut man sowieso nicht mehr, weil sie angeblich einseitig berichten. Das deckt sich mit einer jüngsten Umfrage aus Deutschland. Demnach hat fast die Hälfte der Befragten wenig oder gar kein Vertrauen in die deutsche Berichterstattung zum Gaza-Krieg. Deshalb weichen viele auf arabische, israelische oder englischsprachige Medien aus. Und einige denken sogar an das Auswandern.