Von Roger Balman, London
Vor mehr als drei Monaten fiel die Diktatur von Baschar al-Assad in Syrien. Millionen Syrier hofften auf eine bessere Zukunft – die bisher nicht eingetreten ist. Nach den Massakern vor allem an den Alawiten an der Mittelmeerküste mit etwa 1.000 Toten fürchten andere Minderheiten wie Drusen, Christen und Kurden auch um ihre Sicherheit. Die Sicherheitslage ist weiter schwierig, die wirtschaftliche auch. Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa hat die Löhne der staatlichen Angestellten bisher nicht wie versprochen erhöht, die meisten bekommen nicht einmal 100 Euro im Monat. Dass Syrien bisher nicht wieder auf die Beine kommt, es keinen Plan zum Wiederaufbau gibt, liegt auch daran, dass die Groß- und Regionalmächte völlig unterschiedliche Vorstellungen haben, wie die Zukunft Syriens aussehen soll. Ein Überblick über die Interessen:
Die Interessen Ankaras
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan war nach dem Sturz des Assad-Regimes erst einmal der große Gewinner. Die Türkei hatte die siegreiche Rebellengruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) jahrelang unterstützt, Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa hat enge Kontakte zum türkischen Geheimdienst. Schon wenige Tage nach dem Umsturz konnte man in Damaskus mit der türkischen Lira bezahlen, türkische Waren überschwemmen den syrischen Markt. Für Ankara ist Syrien ein großer Markt für die heimische Wirtschaft, und ein wichtiger Baustein für Erdoğans Ziel, im Nahen Osten eine wichtige Regionalmacht zu werden. Der türkische Präsident möchte ein stabiles Syrien, das von einer sunnitisch-islamistischen HTS-Regierung dominiert wird. Die türkische Armee soll bereits erste Militärbasen im Land errichten.
Einig sind sich Erdoğan und al-Scharaa aber nicht immer, vor allem, was die Haltung gegenüber den Kurden in Nordsyrien angeht. Die HTS-Regierung schloss mit der dortigen SDF-Armee ein Abkommen, das diese voll in die reguläre syrische Armee überführen soll. Zum Ärger der Türkei, die die SDF als verlängerten Arm der Terrorgruppe PKK sieht und regelmäßig bombardiert.
Die Interessen Jerusalems
Für Israel war der Nachbar Syrien in den vergangenen Jahren immer ein Problem, das Regime von Baschar al-Assad überlebte nur so lange, weil Waffen aus Iran und die Kämpfer der mit den Mullahs verbundenen libanesischen Hisbollah an vorderster Front gegen die Rebellen kämpften. Im Gegenzug nutzten Teheran und die Hisbollah das Land als Nachschublinie nach Libanon, um von dort Israel zu bedrohen und zu beschießen. Weil diese Route mit dem Fall von Assad gekappt wurde, konnte Israel auch so erfolgreich die Hisbollah bekämpfen, die so geschwächt ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. In Beirut könnte nun sogar die Entwaffnung der Hisbollah gelingen, mit Libanon verhandeln die Israelis derzeit über die künftigen Grenzen.
Für Syrien sieht die Regierung von Benjamin Netanjahu nur Gefahren, keine Chancen. In Jerusalem glaubt man, dass Syrien entweder im Chaos versinken und wieder zu einem Satelliten Irans werden wird. Oder aber von Islamisten regiert wird, denen nicht zu trauen ist. Und die zusätzlich vom Erzfeind Türkei unterstützt werden, mit dem Israel um die Hegemonie in der Region konkurriert. Netanjahu will deshalb ein schwaches Syrien, das keine Gefahr für ihn werden kann. Dessen Armee keine Flugabwehr hat, die israelische Luftangriffe abfangen könnte. Allein in den ersten Tagen nach Assads Sturz zerstörte Israel fast die gesamte syrische Luftwaffe und Marine. Netanjahu bietet den Kurden im Norden seine Unterstützung an, allein deshalb, weil sie Erdoğans Gegner sind. Netanjahu sprach sich sogar für den Verbleib der Russen in Syrien aus, die dort zwei Stützpunkte haben. Sie sollen ein Gegengewicht zur Türkei bilden. Im Süden Syriens hat Israel weitere Gebiete besetzt und mindestens neun Militärbasen eingerichtet. Viele Syrer befürchten, dass Israel versuchen könnte, die Gebiete der Drusen in Syrien und dem besetzten Golan zu verbinden und vom Rest Syriens abzutrennen.
Kritiker, auch im eigenen Land, glauben, dass Netanjahu mit seiner Politik genau das Chaos herbeiführen wird, das er doch eigentlich vermeiden will. Die syrische Wirtschaft droht zu kollabieren, auch weil das Land wegen der US-Sanktionen weitgehend vom internationalen Finanzsystem abgeschnitten ist. Netanjahu drängt US-Präsident Donald Trump immer wieder, die Sanktionen aufrechtzuerhalten.
Die Interessen Washingtons
Die Haltung der USA wird entscheidend sein dafür, wie es mit Syrien weitergeht. Nur spielt das Thema für US-Präsident Trump keine große Rolle. Das kann gut sein für Syrien – oder auch nicht. Auf der einen Seite hat Trump nach dem Sturz Assads klargemacht, dass er Syrien für hoffnungslos hält: „Syrien ist ein Schlamassel, aber es ist nicht unser Freund“, schrieb er am selben Tag in seinem sozialen Netzwerk Truth Social. Auf der anderen Seite hat er nicht wie von vielen befürchtet die etwa 2000 verbliebenen US-Soldaten abgezogen, die in Nordsyrien die Ölquellen schützen und die Lager mit den gefangenen IS-Terroristen – und auch die Kurden vor der Türkei.
Wie es in Syrien weitergeht, wird auch davon abhängen, auf welche Seite Trump sich ziehen lässt, auf die Israels oder die der Türkei. Präsident Erdoğan hat ihn vor wenigen Tagen wieder angerufen und gebeten, die Sanktionen zu beenden. Der türkische Präsident sprach davon, „wie wichtig es ist, gemeinsam zur Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien beizutragen, um die Stabilität wiederherzustellen, die neue Regierung funktionsfähig zu machen und die Normalisierung zu unterstützen“. Trump hat sich nach dem Telefonat bislang nicht öffentlich geäußert.
Die Interessen der muslimischen Nachbarn
Länder wie Saudi-Arabien oder Katar stützten viele Jahre lang die Opposition gegen Assad, verloren aber in den vergangenen Jahren den Glauben, dass der Sturz noch gelingen könne, nahmen Assad schließlich sogar wieder in die Arabische Liga auf. Auch Interimspräsident al-Scharaa will gute Beziehungen zu den Golfstaaten und Syrien von Iran lösen, seine erste Reise führte ihn nach Saudi-Arabien. Von dort kam aber bisher wenig Unterstützung, weder finanziell noch in Form eines Planes, wie es mit dem Land weitergehen soll.
Für Teheran war der Fall von Assad ein traumatisches Ereignis, das die Achse des Widerstandes gegen Israel massiv schwächte. Aufgegeben haben die Mullahs das Land aber noch nicht, vieles deutet darauf hin, dass der Angriff von Assad-treuen Alawiten auf die Sicherheitskräfte des neuen Regimes von Iran unterstützt wurde. Ein schwaches und instabiles Syrien ist in dessen Interesse, so könnte es das Land wieder als Schmuggelroute nach Libanon gewinnen.
Die Interessen Moskaus
Präsident Wladimir Putin gehört zu den klaren Verlierern von Assads Sturz, er hatte das Regime jahrelang gestützt, mit seinen Bombern ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht. Putin hofft zumindest, seine zwei Militärstützpunkte behalten zu können, vor allem die Luftwaffenbasis nahe Tartus. Von dort fliegen Militärmaschinen nach Libyen, in den Sudan und in die Zentralafrikanische Republik, wo Russland große Bodenschätze ausbeutet.