Von Ahmad Al-Remeh
Nach allem, was sich in Gaza infolge der Regierungsführung und Ideologie von Hamas ereignet hat, ist es entscheidend, innezuhalten und zu fragen: Wie konnte es in Gaza so weit kommen? Welche Denkweise hat zu dieser Realität geführt?
Eines der Hauptprobleme liegt in der Priorisierung des islamistischen Projekts von Hamas gegenüber dem eigentlichen palästinensischen Anliegen. Das wirft eine größere Frage auf: Wie sollen wir Hamas überhaupt einordnen? Handelt es sich um eine palästinensisch-islamische Bewegung? Wenn ja, positioniert sie sich in einem äußerst komplexen und umstrittenen Raum innerhalb der arabischen und islamischen politischen Landschaft.
Hamas nutzt strategisch ihre religiöse und geografische Identität, um emotionale und ideologische Unterstützung zu mobilisieren, und präsentiert sich als islamischer Vorreiter zur Verteidigung Palästinas. Dieses Narrativ weckt weiterhin Sympathie in weiten Teilen der arabischen und muslimischen Öffentlichkeit – insbesondere angesichts des Scheiterns konventioneller politischer Lösungen für das palästinensische Problem. Viele betrachten Hamas als die einzige Bewegung mit den „Schlüsseln zur Macht“ – dank ihrer militärischen Taktiken und ihrer Ablehnung traditioneller politischer Prozesse.
Doch genau diese Haltung schafft eine gefährliche Illusion. Kaum jemand fragt: Verfügt Hamas über einen echten, praktikablen Plan zur Befreiung Palästinas oder zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung? Oder handelt es sich um ein mediengetriebenes Narrativ, verstärkt durch einen großen Kreis arabischer Prediger und religiöser Persönlichkeiten, die historisch gesehen eine höchst emotionale – aber politisch naive – Beziehung zur palästinensischen Sache pflegen?
Um Hamas und ähnliche islamistische Bewegungen zu verstehen, muss man ihr ideologisches Weltbild begreifen. Sie glauben, dass alle Zivilisten in ihrem Einflussbereich ein Abbild der Bewegung selbst werden müssen. Dieses Konzept geht zurück auf die frühe islamische Geschichte – insbesondere auf den Feldzug des Propheten Muhammad nach Tabuk. Islamistische Gruppen vergleichen ihre heutigen Gegner oft mit den „Heuchlern“, die damals den Propheten nicht unterstützten. Jegliche Abweichung von ihrem Weg wird daher nicht nur als politischer Widerspruch, sondern als religiöser Verrat angesehen.
Ein aufschlussreicher Vergleich lässt sich zur Situation in Syrien ziehen. Zivilbevölkerungen unter der Kontrolle einer islamistischen Gruppe wurden von rivalisierenden Gruppen oft ignoriert oder entmenschlicht. Gruppen wie der IS betrachteten Zivilisten außerhalb ihres Herrschaftsgebiets als Abtrünnige, weil sie nicht in den sogenannten Islamischen Staat übersiedelten. Ebenso betrachteten syrische Islamistenmilizen während der Revolution Zivilisten außerhalb ihrer Einflusszonen als nicht in ihrer Verantwortung liegend – unabhängig von gemeinsamer Ethnie, Geografie oder sogar Konfession.
Diese Denkweise ist auch in Gaza erkennbar. Hamas betrachtet sich selbst als alleinige Trägerin des „Projekts der Umma“ – eine ideologische Führungsrolle, die ihrer Ansicht nach nicht nur Unterstützung, sondern Gefolgschaft verlangt. Seit der Machtergreifung in Gaza hat Hamas die Kontrolle über die meisten Moscheen übernommen, abweichende Stimmen – selbst von der einstigen Verbündeten Islamischer Dschihad – zum Schweigen gebracht und eigene Prediger eingesetzt. Diese verkünden seit Jahren eine einfache, aber wirkungsvolle Botschaft: Hamas ist der Islam. Hamas ist Palästina. Hamas ist Jerusalem. Alle anderen sind unwissend, irregeleitet oder Heuchler.
Diese Denkweise spiegelt das Gedankengut von Sayyid Qutb wider, dessen Konzept der „modernen Dschahiliya“ (vorislamische Unwissenheit) die ideologische Ausrichtung vieler islamistischer Gruppen prägte. Interessanterweise hat auch Irans oberster Führer Ali Khamenei ähnliche Aussagen gemacht – er spricht von einer muslimischen Welt, die zwischen neuer Unwissenheit und Katastrophe gefangen sei – was Fragen über die rhetorischen Parallelen zwischen Teheran und Hamas aufwirft.
In einem solchen Weltbild steht der Zivilist nicht mehr im Zentrum. Die Menschen sollen der Bewegung dienen – nicht umgekehrt. Wer sich nicht materiell oder moralisch mit der Sache identifiziert, wird oft als Verräter oder Heuchler abgestempelt. Das erklärt womöglich, warum viele islamistische Gruppierungen in Konfliktzeiten kaum Rücksicht auf das Wohlergehen der Zivilbevölkerung nehmen.
Gaza steckt heute in einer Krise. Die humanitäre Katastrophe ist für alle sichtbar. Die politische Blockade lässt keine Hoffnung auf Besserung erkennen. Laut dem Palästinensischen Statistikamt liegt die Jugendarbeitslosigkeit (18–29 Jahre) unter jenen, die nicht in Ausbildung oder Studium sind, bei erschreckenden 63 %. Dabei handelt es sich größtenteils um Personen, die außerhalb des Einflussbereichs von Hamas stehen. Seit der politischen Spaltung 2007 hat Hamas fast 40.000 Personen in ihren Regierungs- und Sicherheitsapparat aufgenommen.
Mit anderen Worten: Die Arbeitslosigkeit betrifft vor allem jene, die nicht Teil von Hamas sind oder nicht von ihrem System profitieren.
Die Armutsrate in Gaza ist laut dem Ministerium für Soziale Entwicklung auf 75 % gestiegen – damit gehört die Region zu den ärmsten der Welt. Das Gesundheitssystem steht vor dem Kollaps: Es fehlt an Ausrüstung, Betten und essenziellen Medikamenten – besonders für chronisch und schwer erkrankte Patienten.
Die zentrale Frage ist also: Was will Hamas von Gaza? Gibt es eine politische Vision? Eine Strategie, das Leid der Bevölkerung zu lindern?
Offenbar nicht. Trotz ihres Anspruchs, für einen „gemäßigten Islam“ zu stehen, zeigt Hamas kaum Interesse an der sozialen Notlage in Gaza. Das mag kontraintuitiv erscheinen – wie kann eine islamische Bewegung ihr Volk so sehr ins Elend stürzen? – doch die bittere Wahrheit könnte sein: Die Situation dient den Interessen von Hamas.
Die humanitäre Katastrophe durch den Krieg ist zu einem politischen Kapital geworden. Hamas beschuldigt arabische und muslimische Staaten, sie während ihrer „ungeplanten“ militärischen Kampagne – die Tod und Zerstörung für Gazas Zivilisten brachte – verraten zu haben.
Historisch gesehen stellen Armeen den Schutz ihres Volkes in existenziellen Kämpfen an erste Stelle. Kriminelle Organisationen und Drogenkartelle hingegen lassen ihre Leute im Stich, während ihre Anführer überleben. Die scheinbare Gleichgültigkeit von Hamas gegenüber der Sicherheit der Zivilbevölkerung wirft die Frage auf: Warum schützt sie ihr eigenes Volk nicht während ihrer militärischen Operationen – insbesondere wenn ihre Legitimität auf der Unterstützung der Bevölkerung beruht? Wer glaubt, Hamas habe in Gaza verloren, irrt sich. Und wer denkt, Hamas wolle Veränderungen, missversteht die Natur dieser Organisation. Hamas beansprucht den Sieg – trotz allem Leid – und behauptet, die letzte Bastion des palästinensischen Widerstands zu sein, auch wenn sie allein steht.
Tatsächlich gleicht Hamas eher einer militanten Gruppe, die nie damit gerechnet hat, Land zu halten – geschweige denn, es zu regieren. Ihr Traum war ein flüchtiges Dschihad-Projekt. Und doch ist sie jetzt hier: kontrolliert ein Gebiet, betreibt ein militärisches System, verwaltet Einnahmen und errichtet – nach eigener Auffassung – das erste arabisch-islamische Emirat.
Und so bleiben die eigentlichen Fragen offen:
Wann wird Hamas Palästina über ihr ideologisches Emirat stellen?
Wann wird sie das palästinensische Volk zur Grundlage des Widerstands machen?
Und wie lange wird sie noch – ohne strategische Voraussicht – mit dem Leben von Millionen spielen?
Bis dahin stehen die Menschen in Gaza vor zwei drastischen Optionen:
Teil von Hamas werden und Zugang zu den Grundbedürfnissen erhalten – oder außen vor bleiben und als unwissend, heuchlerisch oder Schlimmeres gelten.