Wie Michael Barry in seinem Buch „Le Royaume de l‘ insolence“ * eindrucksvoll beschrieb, dienen die Berge Afghanistans bereits jahrhundertelang als natürlicher Schutz für den indischen Subkontinent und als Barriere für den arabisch – persischen Golf gegen Invasoren aus den Steppen Zentralasiens. Jeder, der es vermochte aus dem Norden kommend diese natürliche Barriere zu haltem, könnte sich aus der gebirgigen Region in Richtung Süden des Landes ausbreiten und dies mit Gewalt unterwerfen. Nach der imperialen Politik des Zarenreichs Russland erkannte die Sowjetunion diese militärischen Möglichkeiten, als sie im Dezember 1979 „das Land der Afghanen“ besetzte. Speziell zu Beginn des 21. Jahrhunderts begann sich die strategische Rolle Afghanistans zu entwickeln, ohne an Bedeutung zu verlieren. Im Gegenteil. Zum Einen aufgrund der Tatsache, dass die Länder Zentralasiens, vor allem Russland, militärisch und politisch schwächer wurden. Zum Anderen auf Grund der sich rasch entwickelnden technologischen Entwicklungen, die es der chinesischen Armee ermöglicht die nun selbstständig die Gebirgszüge des Himalaya zu überqueren. In dieser Region stehen die grenzübergreifenden Beziehungen zwischen den Ländern Afghanistans – Russland, Iran und China dem Westen politisch konträr gegenüber. Auch Pakistan, in welchem die Behörden in Islamabad seit Jahren ein doppeltes Spiel zwischen den USA und China spielen, muss in diesem Kontext genannt werden. Washington verließ sich darauf die Realität zu negieren, auf die eigene Stärke zu zählen und die politische Lage zu dominieren. Gegenwärtig kippt das Blatt jedoch in Richtung China, aufgrund des wirtschaftlichen Gewichts und Chinas geographischer Nähe zu Pakistan. Zusätzlich zu diesen drei Einflussfaktoren auf die regionale Politik gibt es noch eine vierte Realität: Seit dem Widerstandskrieg gegen die Sowjets hat Afghanistan in den Augen radikaler Islamisten einen emblematischen Wert übernommen. Kombiniert mit seinem bergigen Terrain, das naturgemäß zu der Schaffung von Schutzzonen beiträgt, und der De-facto-Autorität der Taliban, die für die Ideologie der islamistischen Terroristen günstig ist, macht dies das Land zu einer idealen Basis, um Angriffe gegen den Rest der Welt zu starten. Afghanistan entwickelt sich mehr und mehr zu einer neuen Bastion für radikale Gruppierungen.
Die westliche Präsenz in Afghanistan, vor allem die der Amerikaner, machte es lange Zeit möglich, China, Russland und den Iran in ihren Schranken zu halten. Darüberhinaus führten US Truppen gezielte und regelmäßige Militäroperationen aus Kabul heraus gegen Terrornetzwerke durch, was eine Zunahme an Neurekrutierungen zur Folge hatte. Aus strategischer Sicht und ohne auch nur den menschlichen Aspekt zu erwähnen, wird deutlich, dass der Abgang der amerikanischen Armee aus Afghanistan ein tragischer Fehler war.
Darüber hinaus scheint es offensichtlich, dass es politisch inkonsequent ist angesichts der US amerikanischen Interessen in der Region die eine Marineflotte vor Chinas Haustüre zu entsenden und die Hintertür, nämlich Zentralasien offen zu lassen. Diese politischen Entwicklungen helfen dabei Emmanuel Macrons besorgte Reaktion nach seiner Rückkehr aus Peking im April 2023 zu verstehen. Die Bemerkungen des französischen Präsidenten haben auch das Risiko einer strategischen Entkoppelung von Europa und den Vereinigten Staaten unterstrichen, ein Szenario, welches Peking angeblich will. Im Falle einer Blockade des Seehandelsweges durch die USA nach China, wäre Europa über den Landesweg durch die „Neuen Seidenstraßen“ weiterhin mit chinesischen Rohstoffen belieferbar. Der Alte und der Neue Kontinent hätten divergierende Interessen, und die Existenz der Nato wäre durchbdiese Entwicklung bedroht.
Aus derzeitiger Sicht ist eine militärische Rückkehr westlicher Länder nach Afghanistan keine Option. Was es braucht, ist eine friedliche Präsenz im Land, um einen bewaffneten und politischen Widerstand gegen die Taliban leisten zu können und die Rückkehr einer kooperativen und durch den Westen unterstützten Regierung.
Wenn sich die Vereinigten Staaten für diese Weisheitslösung entscheiden würden, dann wäre das einzige, was noch zu tun wäre, die Mittel zu schaffen, um die Entstehung militärischer Widerstandsfähigkeit gegen die Taliban zu ermöglichen. Dies ist sowohl komplex als auch schwierig, aber machbar. Mehr noch, es bleibt keine andere Wahl.
* „Le Royaume de l‘ insolence: l‘ Afghanistan“, Michael Barry, Flammarion _Publishing Group, 1984 et 2011.
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