Der albanische Ministerpräsident Edi Rama betreibt die Gründung eines muslimischen Zwergstaats in einer Enklave der Hauptstadt Tirana nach dem Vorbild der Vatikanstadt in Rom.
Wie albanische Medien sowie die „New York Times“ berichteten, hat sich Rama mit Baba Mondi, dem 65 Jahre alten Oberhaupt des schiitischen Bektaschi-Ordens, auf die Verwirklichung eines solchen Projekts verständigt. Danach soll Baba Mondi zum Oberhaupt eines Kleinstaats mit definierten Außengrenzen, einer eigenen Verwaltung und eigenen Pässen werden – ähnlich wie der Papst über die Vatikanstadt herrscht. Für diesen „muslimischen Vatikan“ will der sozialistische Politiker, der seit elf Jahren Ministerpräsident des Balkanstaates ist, mehrere Straßenzüge in der Umgebung des Hauptquartiers des Bektashi-Ordens zur Verfügung stellen.
Das Territorium des künftigen „Souveränen Staates des Bektaschi-Ordens“ im Osten Tiranas soll etwa elf Hektar umfassen, das entspräche einem Viertel der Größe des Vatikans. Derzeit besteht das Bektaschi-Weltzentrum aus einer Versammlungs- und Gebetshalle, einem Museum zur Geschichte des Ordens, einer Poliklinik, einem Archiv und Verwaltungsgebäuden. Ministerpräsident Rama dürfte sich von dem symbolischen Akt erhoffen, dass er ungeachtet der zunehmend autoritären Züge seiner Herrschaft als liberaler und weltoffener Herrscher eines Landes gilt, das bald in die EU aufgenommen werden könnte. Rama räumte ein, dass die Schaffung eines souveränen muslimischen Zwergstaates in Tirana Zeit brauchen werde. Nach den Worten des Regierungschefs erarbeiten einheimische und ausländische Fachleute jedoch bereits einen Gesetzentwurf zur Schaffung eines neuen Staates innerhalb Albaniens, dem das von Ramas Sozialisten kontrollierte Parlament wohl zustimmen dürfte.
Unklar ist freilich, wie viele Länder den Staat der Bektaschi anerkennen würden. Der „New York Times“ sagte Rama mit Blick auf das Unterfangen: „Vielleicht werden alle sagen: ‚Dieser Typ ist verrückt‘. Aber das haben sie schon oft über mich gesagt, das ist mir egal. Das Wichtigste, ob verrückt oder nicht, ist es, für das Gute zu kämpfen.“ Im Gespräch mit einer albanischen Zeitung vom Samstag erklärte Baba Mondi die Notwendigkeit eines souveränen Staats für die Bektaschi mit den Worten, in Zeiten von religiöser Intoleranz, von Extremismus und Radikalismus müsse man „Stimmen Gehör verschaffen, die Frieden und Verständnis fördern“. Der Bektaschi-Orden stehe seit Langem für diese Werte, und die Verleihung der Souveränität stelle sicher, „dass die Bektaschi diese Botschaft weiterhin wirksam verbreiten können“. Die albanische Regierung wisse um die Notwendigkeit, gemäßigte religiöse Stimmen zu schützen, sagte Baba Mondi.
Die Bektaschi gelten als liberale Muslime, die eine freie Auslegung des Korans mit Mystizismus, Elementen vorislamischer türkischer Religionen und der Verehrung ihrer verstorbenen Weisen, der Derwische, verbinden. Es gibt keine Vorschriften zur Lebensführung wie das Verbot von Alkohol oder Schweinefleisch, auch keine Kleidungsvorschriften oder abgetrennte Sakralräume für Frauen. Das Gebet ist nicht an Tageszeiten vom Morgen bis zum Abend gebunden, sondern findet zur Abendzeit statt, wenn die Arbeit ruht und sich die Gläubigen kontemplativ-mystisch öffnen können.
Nach dem Verbot aller Derwisch-Orden durch den türkischen Staatsgründer Kemal Atatürk von 1925 verlegten die Bektaschi ihr Zentrum nach Albanien. Dort wurden deren Derwische und Babas nach der Erklärung Albaniens zum ersten atheistischen Staat der Welt durch den kommunistischen Diktator Enver Hoxha von 1967 verfolgt, wie die Geistlichen aller anderen Religionen. Die meisten Kultstätten der Bektaschi – Tekke genannt – wurden unter Hoxha zerstört, bis zum Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur 1990 gab es nur noch sechs Tekken im ganzen Land. Nach der Aufhebung des Religionsverbots erlebten die Bektaschi in Albanien eine Renaissance, Dutzend von Tekken wurden wieder aufgebaut oder neu errichtet. Neben dem Weltzentrum in Tirana gibt es heute in Vlora in Südalbanien das 2005 errichtete große Bektaschi-Bildungszentrum. Von konservativen Sunniten und Schiiten werden die Bektaschi als Ketzer gebrandmarkt.
Als Gründer der Gemeinschaft der Bektaschi gilt der muslimische Mystiker und Sufi Hadschi Bektasch (um 1209 bis 1271) aus Khorasan, der vor allem in Anatolien wirkte. Zur Gemeinschaft der Bektaschi gehören heute weltweit – nach stark variierenden Schätzungen – zwischen sieben und zwanzig Millionen Gläubige. Die meisten von ihnen leben in der Türkei und auf dem Balkan. In Albanien stellen die Bektaschi nur etwa fünf Prozent der 2,4 Millionen Einwohnern, unter der muslimischen Bevölkerungsmehrheit von insgesamt 57 Prozent machen sie etwa neun Prozent aus. Etwa zehn Prozent der Albaner sind katholische, rund sieben Prozent orthodoxe Christen.
Das konfessionell gemischte Albanien versteht sich als religionspolitisch neutraler Staat. Auch unter der Bevölkerung spielen Glaube und konfessionelle Zugehörigkeit keine grosse Rolle. Mischehen sind an der Tagesordnung. Edi Rama etwa bezeichnet sich als nichtpraktizierenden Katholiken, seine Frau ist Muslimin, die Kinder aus erster Ehe orthodox. Eine so prominente Hervorhebung der Bektaschi, zu denen sich heute nur gegen 3 Prozent der Bevölkerung bekennen, wirft unter diesen Umständen tatsächlich Fragen auf.
Kritisiert wird aber auch, wie das Projekt lanciert wurde. „Rama präsentierte die Idee auf der internationalen Bühne, ohne dass zuvor im Land eine Debatte stattgefunden hätte“, sagt ein Sprecher der Denkfabrik AIPS in Tirana. Rama vermittle den Eindruck, der Staat gehöre ihm und er könne tun und lassen, was er wolle. Auch von anderen aufsehenerregenden Vorhaben wie dem Migrations-Abkommen mit Italien oder der Vernichtung syrischer Chemie-Waffen in Albanien hatte die lokalen Bevölkerung aus der internationalen Presse erfahren.
Daneben kursieren noch weitere Spekulationen über die Hintergründe von Ramas Ankündigung: Will er den ohnehin schon boomenden Tourismus im Land weiter ankurbeln? Soll der Zwergstaat zu einem Steuerparadies werden und Finanzinvestoren anlocken? Oder stecken am Ende die USA als enger Verbündeter und Israel dahinter, die damit den durch den Gaza-Krieg verursachten Flurschaden in der muslimischen Welt aufzufangen suchen?
Man wissen es nicht. Fest steht aber, dass unter der gegebenen Verfassung das Projekt gar nicht realisierbar ist. Das Grundgesetz lasse Vorstösse, welche die territoriale Unversehrtheit des Landes berührten, nicht zu. Sollte Ramas Sozialistische Partei bei den Wahlen im kommenden Jahr eine Zweidrittelmehrheit erringen, könnte sie allerdings die Verfassung ändern. Doch auch dann müsste der neue Staat ja auch noch international anerkannt werden.
Einige Beobachter erwarten angesichts dieser Hürden, dass das Projekt ohne konkrete Folgen versande. «Ich bin mir da nicht so sicher», sagt ein Politologe. „Rama hat mit seinem Auftritt viel investiert.“ Man darf auf die nächste Überraschung aus Tirana gespannt bleiben.