Es sieht nicht gut aus für Boualem Sansal. Staatlich kontrollierte Medien in Algier hetzen gegen den 75 Jahre alten Schriftsteller. Der algerisch-französische Doppelstaatler wurde Mitte letzten Monats bei seiner Ankunft in Algier festgenommen. Der Vorwurf gegen den Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels lautet: „Angriff auf die nationale Integrität“. Das ist ein Terrortatbestand, auf den die Todesstrafe steht, auch wenn solche Urteile gewöhnlich in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt werden.
Das algerische Staatsfernsehen ENTV nennt Sansal einen „Agenten mit marokkanischen Wurzeln, der sich hinter der Literatur im Dienste eines schmutzigen Projekts versteckt“. Für die staatliche Nachrichtenagentur APS ist er ein „Pseudointellektueller, der von der extremen Rechten verehrt wird“. Hinter ihm stehe das „gesamte antialgerische und prozionistische Who’s who von Paris“. Französische Politiker haben seine Freilassung gefordert, ebenso der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und zahlreiche international angesehene Schriftsteller, unter ihnen Annie Ernaux, Orhan Pamuk und Salman Rushdie.
Der Autor ist gleich zwischen zwei politische Fronten geraten: Die Beziehungen zwischen Algier und Paris haben wegen des Streits um die Westsahara einen neuen Tiefstand erreicht. Gleichzeitig hat sich der Konflikt mit dem regionalen Rivalen Marokko bis an den Rand einer bewaffneten Auseinandersetzung verschärft.
In einem Interview Anfang Oktober hatte sich Sansal auf politisch vermintes Gelände begeben. Er sprach mit dem Medienportal „Frontières“, das der extremen Rechten nahesteht. Dort stellte er die von der Kolonialmacht Frankreich gezogenen Grenzen infrage: Der ganze westliche Teil Algeriens sei vor der französischen Kolonialisierung marokkanisch gewesen, auch Oran, sagte Sansal. Ursprünglich hätten algerische Unabhängigkeitskämpfer das Gebiet zurückgeben wollen. Aber bald hätten sie die Konfrontation mit dem Nachbarn gesucht und die Westsahara-Befreiungsfront Polisario „erfunden, um Marokko zu destabilisieren“.
Sansal beging aus algerischer Sicht ein doppeltes politisches Sakrileg, weil er die eigenen Grenzen und dazu noch den Unabhängigkeitskampf der Polisario infrage stellte, deren Schutzmacht Algier ist. Dort ist die Empörung groß, seit Frankreich im Juli einen diplomatischen Kurswechsel vollzogen hatte. Macron erkannte die marokkanische Souveränität über die Westsahara an; den Autonomieplan Rabats bezeichnete er als die „einzige Grundlage“ für eine Lösung. Ende Oktober war Macron zum Staatsbesuch in Rabat.
Algerien zog daraufhin den Botschafter ab und kündigte an, die Handelsbeziehungen zu Frankreich auszusetzen – ähnlich wie zwei Jahre lang mit Spanien, als Madrid ebenfalls Unterstützung für eine Autonomie der Westsahara signalisiert hatte. Angesichts der Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus wächst die Unruhe in Algier. Während seiner ersten Amtszeit hatte er 2020 nicht nur die marokkanischen Ansprüche auf die Westsahara anerkannt. Er brachte Marokko im Gegenzug dazu, diplomatische Beziehungen zu Israel aufzunehmen. Algerien, das fest auf der Seite der Palästinenser steht, sieht durch Marokkos Allianz mit Israel seine eigene nationale Sicherheit gefährdet. 2021 brach es seine diplomatischen Beziehungen zum Nachbarstaat ab, ein Wettrüsten begann.
Die gemeinsame Grenze birgt schon viel länger politischen Zündstoff zwischen der konservativen marokkanischen Monarchie und dem sozialistischen Algerien. Kurz nach dessen Unabhängigkeit wollte Marokko die Grenze gewaltsam korrigieren. 1963 brach der „Sandkrieg“ aus, den Sansal mit dem jüngsten Gazakrieg vergleicht. Bis heute taucht in marokkanischen Wahlkämpfen die Idee eines „Großmarokkos“ auf, die aufgekommen war, als das Land unabhängig wurde. Unter Berufung auf frühere Herrscher soll es bis an den Senegalfluss reichen, Mauretanien sowie große Teile Malis und Algeriens umfassen – auch die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla sowie die Westsahara.
Die Regime in Algier und Rabat nutzten den Grenzkonflikt bis heute immer wieder, um den Nationalismus zu mobilisieren und von innenpolitischen und wirtschaftlichen Problemen abzulenken. Algerien tritt mit dem seit 2019 regierenden Präsidenten Abdelmajid Tebboune außenpolitisch wieder selbstbewusster auf, gegenüber Marokko wie in der Sahelregion. Dass man in Algier jetzt so harsch auf die Aussagen eines Schriftstellers reagierte, kam dennoch überraschend. Noch im November zeigte sich der Präsident noch milde. Anlässlich des 70. Jahrestags des Beginns des Befreiungskriegs begnadigte er mehrere politische Dissidenten. Der Journalist Ihsane el Kali war zwei Jahre im Gefängnis gesessen, auch der Direktor und der Chefredakteur eines weiteren Medienportals kamen frei.
Nach Einschätzung der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) setzt sich mit Sansals Festnahme eine beunruhigende Entwicklung fort, die mit der Unterdrückung der Hirak-Protestbewegung 2019 begonnen hat. „Die Behörden haben ihre Repression verstärkt. Sie nahmen kritische Stimmen wie Aktivisten, Journalisten, Menschenrechtsverteidiger, Akademiker und Nutzer sozialer Medien ins Visier, auch Algerier aus der Diaspora“, sagt Bassam Khawaja von HRW.
Von der einst lebendigen Presse ist nichts geblieben. Der Meinungsfreiheit werden immer engere Grenzen gesetzt. Im Frühjahr trat ein Gesetz für die Filmbranche in Kraft. Regisseuren und Produzenten drohen Freiheitsstrafen, wenn sie „nationale Werte“ und die „höchsten Interessen der Nation“ missachten.