Der Friedensgipfel für die Ukraine in Saudi-Arabien ist zwar ohne gemeinsame Abschlusserklärung zu Ende gegangen, doch der Austausch sei „sehr ehrlich und offen“ gewesen, erklärte der ukrainische Stabschef Andrij Jermak nach Beendigung des Treffens. Tatsächlich kamen in der saudischen Hafenstadt Dschidda sehr unterschiedliche Parteien zusammen: Da waren die Länder des globalen Südens, wie Indien und Brasilien, die sich im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine bislang neutral verhalten und sich westlichen Bestrebungen entziehen, sich stärker gegen Russland zu positionieren. Da waren Staaten wie Ägypten, die nach dem russischen Stopp des Abkommens für ukrainische Getreideexporte über das Schwarze Meer besonders stark leiden. Und da waren diesmal auch enge Verbündete Russlands wie etwa China, vertreten vom Sonderbeauftragten Li Hui, der bei den informellen Vorgesprächen im vergangenen Juni in Kopenhagen nicht vertreten war.
Russland selbst erhielt keine Einladung zu den Gesprächen in Dschidda. Der russische Vizeaußenminister Sergej Rjabkow erklärte noch vor dem Ende des Treffens, die Gespräche seien zum Scheitern verurteilt. Es handle sich um einen sinnlosen und vergeblichen Versuch des Westens, Länder des globalen Südens auf die Seite der Ukraine zu ziehen.
Lediglich die Worte „fruchtbar“ und „positiv“ waren den Teilnehmern im Anschluss an die Konferenz zu entlocken, auch einem EU-Vertreter. China legte Wert darauf zu betonen, dass es nicht gekommen sei, um dem ukrainischen Friedensplan seinen Segen zu erteilen, sondern um zuzuhören und mitzudiskutieren.
Dass die Teilnehmer von einer Folgekonferenz sprechen, bedeutet, dass hinter den Kulissen offensichtlich genug Schnittmengen für weitere Beratungen gefunden wurden. Dort soll es dann Arbeitsgruppen geben, etwa zum Thema Nahrungsmittelsicherheit, ein für den globalen Süden wichtiges Thema, auch zu nuklearer Sicherheit und einem möglichen Gefangenenaustausch, wie ein EU-Vertreter erklärte.
Neben den USA, China und Europa waren auch zentrale Schwellenländer wie Indien und Brasilien sowie mehrere afrikanische Staaten eingeladen. Vertreter der Ukraine und des Westens hofften demnach, dass der diplomatische Vorstoß dazu führen könnte, dass sich die Staats- und Regierungschefs auf Grundsätze zur Beilegung des Krieges einigen – und auf dieser Grundlage künftig Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine zum Vorteil Kiews laufen können.
Vor dem Gipfel meldete sich der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij per Videobotschaft zu Wort. Erst im vergangenen Mai hatte er das Gipfeltreffen der Arabischen Liga in Saudi-Arabien besucht und den arabischen Staaten vorgeworfen, „die Augen vor den Schrecken der russischen Invasion zu verschließen“. Nun schlägt er andere Töne an: „Je größer die Konsolidierung der Welt bei der Wiederherstellung eines gerechten Friedens ist, desto schneller wird den Bomben und Raketen, mit denen Moskau die Normen des internationalen Rechts ersetzen will, ein Ende gesetzt“, sagte er.
Sowohl Russland als auch die Ukraine sind wichtige Getreidelieferanten. Vor einem Jahr hatten sie sich auf ein von den UN und der Türkei vermitteltes Abkommen geeinigt, das die Wiedereröffnung von drei ukrainischen Schwarzmeerhäfen vorsah und Zusicherungen enthielt, laut denen einlaufende Schiffe nicht angegriffen werden.
Dass der Friedensgipfel in Saudi-Arabien stattfand, scheint auf den ersten Blick paradox. Die Golfmonarchie hat den Westen im vergangenen Jahr häufig verärgert. Seit Russland in die Ukraine einmarschiert ist, nutzt der mächtige Ölproduzent seinen Einfluss auf die Energiemärkte, um die Öl-Preise hochzuhalten. Hier stimmt sich Riad weiter eng mit Moskau ab. Die USA baten den Kronprinzen, sich in der Organisation Erdöl exportierender Länder (Opec) für eine Erhöhung der weltweiten Exporte einzusetzen, um Preise zu senken.
Stattdessen drosselten die Opec die Öl-Produktion, was zur Teuerung führte – und zur Empörung der US-Regierung, die den Verlust von Wählerstimmen wegen stark steigender Benzinpreise fürchtete. Die staatliche saudische Ölgesellschaft Aramco machte derweil 2022 einen Rekordgewinn von 161,1 Milliarden US-Dollar – 47 Prozent mehr als 2021.
Zwar umgeht Saudi-Arabien die Sanktionen gegen Moskau nicht direkt, aber es kauft billigeren Diesel aus Russland für den Inlandsverbrauch, wodurch mehr eigenes Öl für den Export mit höheren Gewinnspannen frei wird. Putin hilft das, Verluste durch Sanktionen des Westens abzufedern. Die USA beschuldigten Saudi-Arabien daher, sich auf die Seite Russlands zu schlagen.
Saudi-Arabien bemüht sich seit Längerem um eine Vermittlerrolle im Ukraine-Krieg. Das könnte – neben dem Versuch der Image-Reparatur – aber auch an der zunehmenden Verstimmung Riads über Moskaus Ölpolitik liegen. Der Kronprinz möchte den Öl-Preis hochhalten, um Infrastruktur-Projekte für seine „Vision 2030“ finanzieren zu können. Putin wiederum lässt wieder mehr Öl exportieren, um die Kriegskasse zu füllen.
In saudischen Medien wurden vor allem die „humanitären Initiativen und Bemühungen“ des Kronprinzen Mohammed bin Salman in den Mittelpunkt der Berichterstattung gerückt. Ziel sei es, den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit zu stärken sowie der Welt weitere sicherheitspolitische und wirtschaftliche Auswirkungen des Konflikts zu ersparen, berichtet die saudische Nachrichtenagentur SPA. Der Vorstoß Riads kommt zu einer Zeit, in der sich das Königreich verstärkt einer eigenständigen Außen- und Wirtschaftspolitik verschrieben hat. Begonnen hat diese Phase vor allem nach einer jahrelangen Abhängigkeit von den USA. Nachdem man in Riad gemerkt hat, dass man sich auf die Amerikaner, gerade nach Angriffen der jemenitischen Huthi-Rebellen auf Ölraffinerien, nicht verlassen kann, hat man umgeschwenkt, Richtung Osten.
Die guten Beziehungen zu China und Russland helfen dem Königreich nicht nur bei der Diversifizierung der eigenen Wirtschaft, sondern gestalten sich auch diplomatisch unkomplizierter. Nach der – durchaus berechtigten – Kritik aus dem Westen am saudisch geführten Jemenkrieg oder an der Ermordung des regimekritischen Journalisten Jamal Khashoggi, für den die CIA den saudischen Königssohn Mohammed bin Salman verantwortlich macht, verschlechterten sich die saudisch-westlichen Beziehungen zunehmend. Erst der Krieg in der Ukraine und die Ölkrise ließen einige europäische Staatenlenker und auch US-Präsident Joe Biden wieder Kontakt aufnehmen – das hat man sich im Königreich gemerkt. Ganz nach dem Motto: Wenn ihr etwas von uns braucht, sind moralische Bedenken plötzlich zweitrangig.
Solch einen diplomatischen Wetterumschwung muss Saudi-Arabien weder bei Russland noch bei China befürchten – gleichzeitig ist man in Riad darauf bedacht, die Beziehungen zum Westen aufrechtzuerhalten und das eigene schlechte Image endgültig hinter sich zu lassen. Denn auch im Umgang mit den östlichen Partnern gibt es Differenzen: Kürzlich kam es etwa zu Spannungen mit Moskau im Rahmen des erweiterten Erdölkartells Opec+, und auch im Umgang mit Peking weiß Riad, dass man mit Blick auf die eigene Sicherheit nicht auf Schutz hoffen darf. Vielmehr verhandelt Mohammed bin Salman derzeit mit US-Präsident Joe Biden um eine Annäherung an Israel, die Liste der saudischen Forderungen ist allerdings lang: vom eigenen zivilen Nuklearprogramm bis zu einem Nato-ähnlichen Schutzversprechen durch die USA. Der Gipfel zum Ukrainekrieg ist für Saudi-Arabien nun die perfekte Gelegenheit, um die ungern gesehenen östlichen Allianzen dem Westen als Vorteil zu verkaufen, von dem letztlich alle profitieren können.
Gute Beziehungen zu den USA, Russland und China sind dieser Tage Mangelware. Ein Grund mehr, warum Saudi-Arabien diese Rolle einnehmen könnte. Dass sich Europa und die USA auf diese Rolle der Saudis eingelassen haben, hat mehrere Gründe. Man hofft, Saudi-Arabien mehr in das westliche Bündnis für die Ukraine einzubinden und aus Riad klarere Aussagen gegen Russlands Aggression zu bekommen. Außerdem sieht man, dass Saudi-Arabien durchaus auch eine indirekte Tür zu Russland darstellt und sich daher für eine Vermittlerrolle anbietet.
Doch im Treffen von Dschidda steckte mehr als die mögliche Hoffnung auf Saudi-Arabien als Vermittler, es war auch weit mehr als eine saudische PR-Veranstaltung. Es war die Anerkennung, dass der Krieg zwar in Europa stattfindet und an den Grenzen der NATO, und damit auch der USA, aber dass Verhandlungen zum Ende des Krieges eine globalere Formel brauchen, an der auch Länder wie China, Indien, Brasilien oder Südafrika mitwirken und sogar mehr erreichen können.
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