Wer in Deutschland Kopftuch trägt, läuft zunehmend Gefahr, Opfer von Angriffen zu werden. Es werden Moscheen mit Schweineblut oder Fäkalien beschmiert, Schülerinnen wird an der Bushaltestelle das Tuch vom Kopf gerissen, Männern mit dunklem Bart wird gedroht, Muslime würden demnächst abgeschlachtet in Deutschland.
1.926 antimuslimische Übergriffe und Bedrohungen wurden im vergangenen Jahr in Deutschland gemeldet und vier versuchte Tötungen, das waren mehr als fünf Angriffe pro Tag und entspricht einem Anstieg von 140 Prozent. Der Anstieg der gemeldeten Übergriffe sei alarmierend, sie richteten sich nicht nur gegen Personen, sondern auch gegen Moscheen und Restaurants. Muslimisch markierte Orte sind längst zur Gefahrenzone geworden.
Meldungen kommen von Beratungsstellen aus fast allen Bundesländern mit Statistiken politisch motivierter Kriminalität des Bundeskriminalamts sowie Medienberichten. Ein Ergebnis: Die Eskalation des Konflikts in Israel und Gaza und seine Folgen haben nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch Muslime in Deutschland in Angst und Schrecken versetzt – und Menschen, die für Muslime gehalten werden. Größte Opfergruppe sind Frauen.
Manchmal sei es nur der Name, der Diskriminierung auslöst, in anderen Fälle wird von der Hautfarbe oder der Kleidung auf politische und religiöse Haltungen geschlossen. 178 Körperverletzungen, vier versuchte Tötungen, 93 Sachbeschädigungen, fünf Brandstiftungen sowie sechs sonstige Gewalttaten wurden dokumentiert, dazu Diebstahl oder Hausfriedensbruch. Und das ist nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit, die Dunkelziffer bei antimuslimischen Übergriffen ist viel höher. Viele Betroffene haben aufgrund der politischen Debatte in Deutschland das Vertrauen in Institutionen verloren und melden Übergriffe gar nicht erst der Polizei. Nötig ist eine verpflichtende Fortbildung in Verwaltung und Sicherheitsbehörden, um antimuslimische Übergriffe als solche erkennen zu können.
Die Zahlen des Lageberichts sind nicht repräsentativ, die Tendenz aber zeigt, wie sehr sich die Lage insbesondere für Muslime verschärft hat. 62 Prozent der registrierten Opfer waren 2023 demnach Frauen. Häufig wurden aber auch Kinder von Erwachsenen angegriffen oder erniedrigt, nicht selten in Schulen. Und nach dem 7. Oktober und dem Terrorangriff der Hamas in Israel sank in Deutschland die Hemmschwelle weiter. Im November 2023 etwa wurde eine Schülerin an einer Bushaltestelle im nordrhein-westfälischen Herford von einem unbekannten Mann als Bombenlegerin beschimpft. In Hamburg schlug ein Unbekannter einer 14-Jährigen ins Gesicht, Anlass war offenbar ihr Kopftuch. In Berlin wurde im November 2023 eine junge Angehörige der Roma mit einem Palästinensertuch von Betrunkenen erst als Hamas-Mitglied gehänselt, dann auf ein Gleis gestoßen. Sie entkam nur knapp dem Tod. In Magdeburg wurden muslimische Gräber mit Hakenkreuzen beschmiert. Schon im Februar 2023 riss eine Frau in Sachsen einer Schülerin das Kopftuch ab und drückte sie zu Boden. In Hamburg schoss ein Rechtsradikaler im Mai durch die Haustür seiner pakistanischen Nachbarn. Eines seiner Zielobjekte: eine schwangere Frau.
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) nannte die Zunahme antimuslimischer Übergriffe dramatisch. „Um Rassismus in unserer Gesellschaft einzudämmen, ist Präventionsarbeit von klein auf – also insbesondere bei Kindern und Jugendlichen – unerlässlich“, erklärte sie am Montag. Das Demokratiefördergesetz allerdings, das Beratungsstellen für Opfer rassistischer Gewalt und Diskriminierung eine verlässlichere finanzielle Grundlage geben soll, hängt im Bundestag fest. Und auch im Internet gewinnt der Hass gegen Muslime an Reichweite. Eine Auswertung der jugendaffinen Internetplattform Tiktok ergab, dass 57 Prozent der Äußerungen von Wut getrieben waren. Der emotionale Grundton sei „negativ“, wenn über Muslime berichtet werde.
Parallel dazu ist die Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland geprägt von Angst, Angriffen. Sie werden verprügelt, ihnen wird mit dem Tod gedroht, sie werden beschimpft. Das ist für Jüdinnen und Juden in Deutschland die Realität, jetzt wieder veranschaulicht durch die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias). Deren Bundesverband meldete knapp 4800 antisemitische Vorfälle im vergangenen Jahr. 80 Prozent mehr als 2022, also fast doppelt so viele.
Vor allem seit dem 7. Oktober, seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel also und dem Beginn der heftigen Militärschläge Israels auf den Gazastreifen, ist die Zahl solcher und ähnlicher Vorfälle dem Rias-Bericht zufolge nach oben geschossen. Fast zwei Dritteln der 4.800 registrierten Vorfälle des vergangenen Jahres ereigneten sich demnach zwischen dem 7. Oktober und Jahresende.
Fachleute aus Wissenschaft, Nichtregierungsorganisationen und Sicherheitsbehörden hatten direkt danach schon gewarnt, dass der Eskalation im Nahen Osten auch eine Eskalation in Deutschland folgen würde. Auch der Verfassungsschutz hat in seinem Jahresbericht für 2023 eine Entgrenzung des Antisemitismus festgestellt, speziell seit Herbst. Auch das Bundeskriminalamt hat einen starken Anstieg bei antisemitischen Delikten seit Ausbruch des Kriegs in Gaza beobachtet. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel bedeute eine Zäsur für Juden und Jüdinnen auf der ganzen Welt, sagt der geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands Rias, bei der Vorstellung des Berichts. „Ein offenes und selbstverständliches, aber vor allem unbeschwertes jüdisches Leben ist auch in Deutschland seit dem 7. Oktober noch weniger möglich als zuvor.“
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sprach mit Blick auf den Bericht von katastrophalen Zahlen. „Jüdisches Leben ist so stark bedroht wie nie seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland.“
Die zivilgesellschaftlich organisierte Rias hat für den Bericht alle Meldungen ausgewertet, die entweder direkt an den Bundesverband oder die zwölf regionalen Meldestellen gingen. Unter den registrierten Vorfällen waren sieben Fälle extremer Gewalt – zum Beispiel der versuchte Brandanschlag in Berlin, dazu schwere Körperverletzungen – und 121 weitere tätliche Angriffe. Dazu kommen 329 Sachbeschädigungen, worunter auch antisemitische Schmierereien und Sticker fallen. 183 Bedrohungen zählte Rias. Damit sind alle übrigen Arten antisemitischer Äußerungen gemeint, Beleidigungen oder Hasspostings etwa, aber auch Attacken, die nicht unbedingt strafbar sind und deshalb nicht in den BKA-Statistiken auftauchen. Es zählen auch Versammlungen, auf denen beispielsweise Israel das Existenzrecht abgesprochen wird, auf denen behauptet wird, Israel begehe einen „Holocaust“ in Gaza, auf denen Teilnehmer Dinge wie „Kindermörder Israel“ skandieren, eine Anlehnung an die uralte antisemitische Ritualmordlegende. Mehr als 800 solcher Versammlungen tauchen im Antisemitismusbericht auf, fast die Hälfte davon fand nach dem 7. Oktober statt. Ein Muster dabei: Jüdinnen und Juden auch in Deutschland werden verantwortlich gemacht für das Handeln und insbesondere die Kriegsführung der israelischen Regierung.
Aber nicht nur bei propalästinensischen Demonstrationen oder anderen Solidaritätsbekundungen gibt es antisemitische Entgleisungen. Rias hat auch die verschwörungsideologische „Querdenker“-Szene nach wie vor im Blick, die antisemitische Erzählungen pflegt wie die von den angeblichen jüdischen Strippenziehern hinter einer vermeintlichen Weltverschwörung.
Längst nicht immer lassen sich die Vorfälle eindeutig einem weltanschaulichen Hintergrund zuordnen, ob sie also von rechts, links, querdenkend oder aus dem antiisraelischen Milieu kommen. Bei fast zwei Drittel der Vorfälle blieb die Motivation der Täter unklar.
Dem Bericht von Rias schlossen sich die Abgeordneten von SPD, CDU, CSU, Grünen, FDP und der Linken im Bundestag mit einem gemeinsamen Statement an: „Wir verurteilen jede Anfeindung gegen Jüdinnen und Juden und setzen uns für ein selbstverständliches, sichtbares und sicheres jüdisches Leben in Deutschland ein.“ Der Kampf gegen Antisemitismus sei „für alle demokratischen Fraktionen im Bundestag eine gemeinsame Verpflichtung“. Benjamin Steinitz von Rias hofft das. Die deutliche Zunahme antisemitischer Vorfälle, sagt er, müsse dem Staat ein „Weckruf“ sein.
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