Russland versucht, syrische Kämpfer für den Europa-Einsatz zu rekrutieren, dies ist ein Faktum. Russland kann auf Rekrutierungsstellen in ganz Syrien zurückgreifen, auch die eng mit dem Kreml verbundene russische Söldnertruppe Wagner soll an solchen Bemühungen beteiligt sein. Laut Quellen in der syrischen Küstenregion, dem Kernland der Alawiten, der Bevölkerungsgruppe Assads, ist dort eine Kampagne im Gange, syrische Söldner anzuheuern. Auch aus dem Umland der Hauptstadt Damaskus und der ostsyrischen Provinz Deir ez-Zor kommen solche Berichte. Neben den syrischen Kämpfern sollen ebenso tschetschenische Truppen bereits in der Ukraine sein, die dem direkten Befehl des Diktators Kadyrov unterstellt sein sollen.
Die Berichte aus Syrien bestätigen allerdings nicht, dass Moskau beim Ausheben nahöstlicher Hilfstruppen tatsächlich so erfolgreich ist, wie der russische Verteidigungsminister behauptet. Schon die Milizionäre in dem Propagandavideo wirken eher wie routinierte Statisten – nicht wie Männer, die darauf brennen, in der Ukraine Assads Herrschaft zu verteidigen. Anhänger des syrischen Gewaltherrschers – und gerade die Alawiten – haben dafür einen hohen Blutzoll im eigenen Land entrichtet. Wenn, dann treibt vor allem die wirtschaftliche Not Syrer in den Kriegseinsatz in der Ferne.
Wie schaut es mit der militärischen Schlagkraft syrischer Söldner aus? Die Zahl kampferprobter und gut ausgebildeter Kräfte ist begrenzt. „Womöglich sind die Syrer gar nicht in erster Linie für einen Einsatz an der Front vorgesehen – sondern für die Drecksarbeit in den schon eroberten Gebieten“, sagte erst vor kurzem ein syrischer Politikwissenschaftler. Das würde erstens zu Putins Kriegsstil passen und zweitens in der Ukraine Sinn ergeben – gerade in den besetzten Orten im Süden der Ukraine, in denen das russische Militär auf unbewaffneten Widerstand stößt.
Der syrische Diktator gibt sich alle Mühe, seine Treue zu Putin zu demonstrieren. Er leistete diplomatische Unterstützung, wo er konnte. Der russische Verteidigungsminister inspizierte gut eine Woche vor dem Angriff die russischen Stützpunkte in Syrien, die auch eine Rolle dabei spielten, den russischen Aufmarsch ins Werk zu setzen und eine Drohkulisse für den Westen zu zimmern. Russische Kriegsschiffe machten auf dem Weg ins Schwarze Meer in der Marinebasis von Tartus Station. Russische Bomber, die mit Atomwaffen bestückt werden können, wurden auf den Luftwaffenstützpunkt von Hmeimim verlegt. Das syrische Präsidialamt behauptete sogar, Assad und Putin hätten Monate vor Kriegsbeginn über den Angriff beraten.
Bei aller zur Schau getragenen Bündnistreue kann das syrische Regime auch nicht verbergen, dass angesichts des Ukrainekrieges großes Unbehagen herrscht, ein abgelenktes Russland nutzt den Aufständischen. Und seinen Plan, ganz Syrien zurückzuerobern, kann Assad ohne russische Luftunterstützung nicht verwirklichen. Aber am drängendsten ist derzeit offensichtlich die Sorge über die wirtschaftlichen Auswirkungen von Putins neuem Krieg. Schon am ersten Tag des russischen Angriffs kam das syrische Kabinett deshalb zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Die Wirtschaft des ausgepressten und ausgebluteten Landes liegt schon jetzt am Boden. Laut Schätzungen leben etwa zwei Drittel der Bevölkerung in extremer Armut. Die Krise dürfte sich jetzt noch einmal deutlich verschärfen, da auch der mächtige Verbündete des Regimes mit scharfen westlichen Sanktionen belegt ist.
Damaskus scheine sich auf die „möglicherweise schwerste Lebensmittel- und Ölknappheit seit Jahrzehnten“ einzustellen, heißt es in einem Bericht des auf die syrische Wirtschaft spezialisierten Internetportals „The Syria Report“. Schon die steigenden Preise für Weizen und Erdöl sind für Damaskus ein großes Problem. Der wirtschaftliche Niedergang und die fortschreitende Verarmung der Bevölkerung bereiten dem syrischen Machthaber bereits länger Schwierigkeiten. Vergangenen Monat kam es in der südsyrischen Stadt Sweida zu Protesten, weil die Führung in Damaskus angesichts der strapazierten Staatskassen Hunderttausende aus einem Subventionsprogramm für überlebenswichtige Güter wie Brot, Kochgas und Benzin ausgeschlossen hatte. Zwar können sich die Menschen in Sweida, die zur Minderheit der Drusen gehören, aus verschiedenen Gründen etwas weiter vorwagen als die Frustrierten anderswo unter Assads Herrschaft. Aber für die Stimmung in der Bevölkerung sind die Proteste aussagekräftig.
Diplomaten und Beobachter fragen sich seit Jahren, wie lange es noch dauert, bis die Leidensfähigkeit erschöpft ist, bis Not und Wut schwerer wiegen als die Angst vor Repressionen des Systems. Schon vorige Schocks haben das Regime erschüttert – wenn auch nicht in seinen Grundfesten. Die unzureichende Antwort der Führung in Damaskus auf die Corona-Pandemie hatte dazu geführt, dass wütende Syrer in den sozialen Medien offen Kritik äußerten. Auch wenn eine Revolte unwahrscheinlich erscheint, bleibt die Frage, wie die Bevölkerung einen neuen wirtschaftlichen Schock wegstecken wird.
Auf maßgebliche Hilfe Putins, diesen abzufedern, kann Assad derzeit kaum hoffen. Russland hat genug eigene wirtschaftliche Probleme angesichts der westlichen Strafmaßnahmen wegen des Überfalls auf die Ukraine. Putin hat schon vorher wenig Interesse daran gezeigt, Geld in den Wiederaufbau Syriens zu investieren. Und die Sanktionen gegen Moskau treffen auch die Führung in Damaskus. Das Regime und seine Günstlinge haben große Summen auf russischen Banken deponiert. „Moskau dürfte nicht länger als finanzieller Zufluchtsort für syrische Geschäftsleute und Mitglieder der Herrscherfamilie dienen“, schreibt der „Syria Report“. „Die Entscheidung, mehrere russische Banken aus dem SWIFT-Bankensystem auszuschließen, hat das Risiko für internationale Transaktionen syrischer Banken erhöht, die teilweise mit russischen Banken verbunden sind.“ So steht auch dem syrischen Finanzsektor, der händeringend nach Möglichkeiten sucht, an harte Devisen zu kommen, ein weiterer Stresstest bevor. Der Druck auf das im Verfall begriffene syrische Pfund wird laut „Syria Report“ noch einmal steigen.
Im Zweifel muss sich Assad stärker auf das iranische Regime stützen, das zwar gemeinsam mit Moskau den Aufstand in Syrien bekämpft hat, aber mit ihm um Einfluss konkurriert. Assad hatte seine beiden Schutzmächte stets raffiniert gegeneinander ausgespielt. Auch das wird jetzt schwieriger. Sei es, weil es in Russland nicht mehr so viel zu holen gibt. Oder weil Putin in der ukrainischen Not den Preis dafür verlangt, seinem syrischen Schützling seinerzeit den Kopf gerettet zu haben.
Jetzt, da der russische Präsident selbst zum Paria geworden ist, werden auch die russischen Bestrebungen aussichtsloser, den Westen für eine Annäherung an Damaskus oder Projekte in der Grauzone der Wiederaufbauhilfe zu gewinnen. Die Toleranz der US-Regierung gegenüber der neuen Appeasement-Politik gegenüber Syrien durch die arabischen Partner hat in einem Fall schon abgenommen. Und Beobachter vermuten, dass das mit der Ukraine zu tun hat. Die Vereinigten Arabischen Emirate, die einen Annäherungskurs an Assad steuern, haben demnach den Unmut Washingtons über ihre zweideutige Positionierung gegenüber der russischen Aggression zu spüren bekommen. Aus zwei Quellen heißt es, es sei kein emiratischer Vertreter mehr geladen gewesen, als unlängst in Washington ein Syrientreffen gleichgesinnter Diplomaten der Small Group abgehalten wurde.
Und auch in der EU könnte der Krieg in der Ukraine Auswirkungen auf die Syrienpolitik haben – nicht zuletzt angesichts der Bilder syrischer Kämpfer, die jetzt für einen Auslandseinsatz in Europa werben. „Assad ist jetzt nicht mehr nur eine Bedrohung für sein eigenes Volk, sondern ganz offiziell auch für den Frieden in Europa“, sagt der syrische Politik-Analyst Malik al-Abdeh. „Ich frage mich, ob sich die europäische Haltung auch ihm gegenüber entsprechend ändern wird.“
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