Die seit 1923 bestehende türkische Republik, die jahrzehntelang von einer Form des autoritären Säkularismus und einer vom Militär dominierten Führung geprägt war, ist vollständig an ihr Ende gekommen. Nun beginnt eine neue Ära mit einer ultra-zentralistischen Herrschaft unter der strategischen Doktrin der „türkisch-islamischen Einheit“, mit starken Zutaten einer sunnitisch-nationalistisch dominierten kulturellen Hegemonie. Die gesamte Gesellschaft in der Türkei droht sich zu verändern. Die Mehrheit der Wähler hat ihr endgültiges Urteil gefällt, so sehr man auch über den geringen Abstand zwischen den beiden Präsidentschaftskandidaten streiten und ihn zugunsten von Kemal Kiliçdaroglu anzweifeln kann.
Recep Tayyip Erdogan ist ein Meister der Symbolpolitik: Sein neues Kabinett stellte er nicht in seinem Präsidentenpalast vor, sondern in der alten Villa des Staatsgründers Atatürk, dort haben alle türkischen Präsidenten vor Erdogan residiert. Das Gebäude steht für das, was Erdogan sonst immer die „alte Türkei“ nennt. Hier kommt seine Symbolpolitik zum Tragen: Der alte und neue Präsident zeigt sich kurz in der Tradition seiner Vorgänger. Bevor er dann schnell wieder in seinen neuen Palast entschwindet, der mit seinem Protz für die ganze Machtfülle steht, die Erdogan sich in die Verfassung hat schreiben lassen.
Viele noch vor wenigen Wochen mächtige Männer sitzen jetzt als einfache Abgeordnete im eher bedeutungslosen Parlament. Was man eben als Zeichen dafür sehen kann, dass der Präsident frischen Wind möchte – oder dafür, dass in diesem Land wirklich alle Macht allein bei ihm liegt. Langjährige Weggefährten wie Innenminister Süleyman Soylu oder der Außenminister Mevlüt Çavuşoglu gehören nicht länger dem engen Machtzirkel im Kabinett an. Intern kann man Erdogans Personalrochade als Signal sehen, dass der Präsident sich vielleicht zum ersten Mal in seiner Regentschaft der Loyalität seiner Sicherheitsbehörden sicher ist. Er wechselt den Verteidigungsminister aus und ersetzt ihn mit dem bisherigen Generalstabschef der Armee. Seinen Chefberater und Sprecher Ibrahim Kalin, einen der wichtigsten Köpfe in Ankara, beruft er zum Chef des Geheimdienstes MIT.
Die wohl größte Überraschung: Erdogan macht Hakan Fidan zum neuen Außenminister, einen alten Vertrauten, der zuletzt viele Jahre lang den MIT geführt hat. Fidan spielte damit eine zentrale Rolle im türkischen Machtgefüge, er war sowohl für die gescheiterten Friedensverhandlungen mit der kurdischen PKK verantwortlich als auch für die Verfolgung der Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, dem Erdogan den Putschversuch 2016 zur Last legt. Als Außenminister kommen auf auf den neuen Mann Themen zu, die er aus dem Geheimdienst kennt. Einerseits wird die Türkei ein neues Verhältnis zum syrischen Regime von Bashar Al-Assad suchen müssen, schon um in der Frage der fast vier Millionen syrischen Geflüchteten in der Türkei weiterzukommen. Fidans MIT war bisher die einzige türkische Behörde, die im Geheimen den Kontakt zu Assad hielt. Inzwischen ist nicht mehr ausgeschlossen, dass Erdogan sich mit Assad treffen könnte.
Vor allem aber wartet auf Fidan die Entscheidung über Schwedens Nato-Beitritt. Ankara bleibt bisher dabei, dass Schweden nicht hart genug gegen die PKK im Land vorgehe. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg war zu Erdogans Amtseinführung angereist und traf diesen am Sonntag, um für Stockholm zu werben. Danach nannte er die türkischen Bedenken „berechtigt“, kein Nato-Land sei „so sehr von Terror bedroht“. Allerdings habe Schweden inzwischen alle Bedingungen erfüllt. Damit Erdogan bis zum Nato-Gipfel am 11. Juli in Vilnius zustimmen kann, sollten sich diese Woche Diplomaten aus der Türkei und Schweden in Brüssel treffen.
Erdogan kann sich auf ein Parlament stützen, in dem mehr als 400 Sitze an eine Mischung aus konservativen, islamistisch-fundamentalistischen und nationalistischen Parteien gegangen sind bei den Parlamentswahlen. Das nun gewählte Parlament, aber auch das Stichwahl-Ergebnis von 52 Prozent zu 48 Prozent werden für Erdogan äußerst nützlich sein, um vor der Welt Legitimität zu beanspruchen und seine Herrschaft zu verteidigen. Erdogan wird argumentieren, dass die Präsenz von 15 Parteien im Parlament und die Art und Weise, wie die Wahlen durchgeführt wurden, beweisen, dass „die türkische Demokratie funktioniert“. Tatsächlich zeigen die vielen Glückwünsche von führenden Politikern aus aller Welt, dass seine Präsidentschaft und seine knallharte Herrschaft ohne große Vorbehalte akzeptiert werden, sogar der enge Freund Putins, der deutsche Ex-Kanzler Gerhard Schröder, genoss zusammen mit seiner Frau die Feierlichkeiten in Erdogans Gemächern in Ankara.
Die türkische Opposition hat sich der Illusion hingegeben, dass „die Türkei der Welt zeigen würde, dass ein Autokrat an den Wahlurnen gestürzt werden kann“. Es war das Ergebnis der Überschätzung einer politischen Kultur, die nach wie vor von populistischen, tribalistischen und utilitaristischen Elementen geprägt ist. Es ist wieder das Gegenteil Realität geworden: Die Unmöglichkeit, ein autoritäres Regime an der Wahlurne zu stürzen. Erdogan hat sich als effizienter Autokrat erwiesen. Als einer, der die Massen in seinem Bann hält, als einer, der seine Position an der Spitze eines Machtbündnisses sichert, zu dem nun auch einige seiner früheren Erzfeinde gehören: Ultranationalisten und antiwestliche Militaristen, genauso wie eine dichte Schicht von korrupten Bürokraten und Geschäftsleuten.
Der Wahltag war zumal ein Tag der Täuschungen. Erdogan trete seine dritte Amtszeit als Präsident an, heißt es, was nicht richtig ist: Er war vor seiner Präsidentschaft schon elf Jahre lang Premierminister. Dazu kommt, dass diese dritte Amtszeit laut Verfassung eigentlich gar nicht erlaubt ist. Erdogans Erklärung dafür: Mit der neuen Verfassung habe alles von vorn begonnen, seine erste Amtszeit zähle deshalb nicht.
Mit der Reform des Wahlgesetzes hat Erdogan erreicht, dass eine eine große Anzahl Parteien den Einzug ins Parlament geschafft hat. Dieses System ermöglicht es Politikern, ihre persönlichen Interessen, die ihrer erweiterten Familie oder Interessensgruppe zu vertreten – und nicht die einer größeren Wählerschaft. Die große Mehrheit der neu gewählten Abgeordneten weiß ebenso wie Erdogan, dass sie einer Versammlung angehören werden, die angesichts der Dominanz der im Dienste des Palastes tätigen Abgeordneten nicht mehr als ein Debattierklub oder eine Abnickvereinigung sein wird. Dies erinnert schon fast an die Abhängigkeiten in der russischen Politik. Die 61 Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP werden das Damoklesschwert über ihren Köpfen spüren. Der Sultan hat sie bereits in seiner Siegesrede verteufelt, und als Herrscher hat er das politische Klima geschaffen und alle Mittel in der Hand, um sie weiter zu kriminalisieren. Er machte dort auch bereits deutlich, dass er bei den Kommunalwahlen Anfang 2024 Istanbul und Ankara an seine Partei zurückholen will. Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass Ekrem Imamoglu, der charismatische Bürgermeister von Istanbul, aufgrund der gegen ihn erhobenen Anklage ein fünfjähriges Politikverbot erhalten wird.
Angesichts der Zustimmung der Massen und seiner rigiden Kontrolle über den Staatsapparat könnte Erdogan die Schlacht in seinem Kulturkampf bereits gewonnen haben. Er wird die kulturelle Hegemonie innehaben, als „Präsident auf Lebenszeit“. Seit dem 28. Mai haben wir es mit einer neuen Türkei zu tun, die Reste der „alten“ Republik kann als begraben betrachtet werden.
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