„Take Back Control“ war der Slogan, mit dem die britische politische Upper Class das Brexit-Votum gewann. Der Spruch bezog sich auch auf die Einwanderer, die laut populistischer Politik in Westminster den Untergang der Insel hervorrufen würden. Fast vier Jahre sind nun vergangen, das Versprechen der Abschottung lässt ebenso auf sich warten wie das Versinken des Eilands: Mit 606.000 Einwanderern ist die Netto-Migration so hoch wie nie, gleichzeitig fehlen in Kernsektoren essenzielle Arbeitskräfte.
Anstatt nach tragfähigen und gesetzeskonformen Lösungen zu suchen, konzentriert sich die Regierung des Premiers Rishi Sunak bloß auf die Bekämpfung der illegalen Einwanderung über den Ärmelkanal, die im vergangenen Jahr rund 45.000 Menschen ausmachte. Das vorgestellte Einwanderungsgesetz sieht vor, dass alle Menschen, die über den Ärmelkanal ankommen, in das ostafrikanische Land Ruanda abzuschieben sind und ihnen das Rückkehrrecht verwehrt wird. Laut einer im März durchgeführten YouGov-Umfrage sprechen sich 32 Prozent der Bevölkerung für das Gesetz aus. Aufgrund eines Richterspruchs, der diese Abschiebungen für rechtswidrig erklärte, konnte das Gesetz bislang nicht umgesetzt werden. Nun versucht Westminster einen neuen Trick und verschärft sogar ihre Pläne, indem sie eine winzige Vulkaninsel mitten im Atlantik ins Gespräch bringt sowie die Internierung von Flüchtlingen auf einem Frachtschiff.
Für die Tories stellten die Sommermonate eine Belastungsprobe ihrer Migrationspolitik dar. Obwohl die Einwanderung über den Ärmelkanal mit rund 45.000 Menschen nur einen geringen Anteil der Gesamtmigration von 1,2 Millionen Menschen im vergangenen Jahr ausmachte, hat Premier Rishi Sunak es zu seinem Kernversprechen erklärt, die sogenannten kleinen Boote zu stoppen, „um kriminellen Gangs das Handwerk zu legen“. Bislang ohne Erfolg.
Die Zahl der Ankommenden ist fast genauso hoch wie im vergangenen Jahr. Insbesondere in den Monaten August, September und Oktober ist mit einem erhöhten Aufkommen zu rechnen. Im vergangenen Jahr sind 51 Prozent aller Einwanderer über die Route in diesen Monaten auf die Insel gekommen.
Noch dazu hat das Herzstück seines Anti-Migrations-Kurses, das internationale umstrittene „Anti-Einwanderungsgesetz“, an Strahlkraft verloren, weil es seit Monaten durch Gerichtsverfahren blockiert wird. Sunak hatte zuletzt angekündigt, vor den Obersten Gerichtshof des Landes zu ziehen, nachdem ein Berufungsgericht das Gesetz für rechtswidrig erklärt hatte.
Dem Gesetz zufolge könnte jeder Person unabhängig von ihrem Herkunftsland, die über eine illegale Route wie über den Ärmelkanal britischen Boden betritt, das Recht auf Asyl automatisch verwehrt und, so war es bislang vorgesehen, in das ostafrikanische Land Ruanda abgeschoben werden. Dort könnte die Person ein Asylverfahren durchlaufen und bei Gewährung nicht etwa nach Großbritannien zurückkehren, sondern sich in Ruanda niederlassen. Im Falle einer Ablehnung müssten die Asylbewerber in ihre Heimatländer zurückkehren. Im Juni vergangenen Jahres hatte London dafür eine Vereinbarung mit Kigali getroffen. Rund 140 Millionen Pfund (162 Millionen Euro) sind dafür bisher in das Land geflossen.
Weil es ungewiss ist, ob die britischen Flüge in ein Drittland überhaupt starten können, bedient sich die Regierungspartei nun anderer Mittel, ihrer Migrationsagenda an Schärfe zu verleihen – etwa mit der Lösung „Ascencion Island“. Nach Angaben des „Guardian“ erklärte die parlamentarische Unterstaatssekretärin im Innenministerium, dass der Plan, Menschen auf die Insel zu schicken, das Ruanda-Programm der Regierung ersetzen könnte, falls dies scheitern sollte.
Eine Vulkaninsel mitten im Südatlantik, rund 1600 Kilometer vom afrikanischen Festland entfernt, soll der britischen Regierung aus ihrer verfehlten Migrationspolitik helfen. Das britische Innenministerium bestätigte Medienberichte, wonach London die britische Überseeinsel Ascension Island als potenziellen Ort zur Auslagerung von Asylsuchenden prüfe. Die Idee ist nicht neu, schon unter dem ehemaligen Premier Boris Johnson wurde sie diskutiert – und damals schnell wieder aus Kostengründen verworfen. Dass das Innenministerium den Entwurf nun wieder hervorholt, verdeutlicht die brisante Lage, in der sich die in Wahlumfragen schwächelnde Regierung befindet. Derzeit liegt die Partei 17 Prozentpunkte hinter Labour.
Ein neuer Coup der britischen Regierung ist an der britischen Küste zu beobachten. Die „Bibby Stockholm“ liegt derzeit im Hafen von Portland in Dorset. Über 500 Flüchtlinge wurden dort untergebracht. Das Schiff sieht eher aus wie ein schwimmender Wohnblock oder, je nach Perspektive, wie ein schwimmendes Gefängnis. Anwälte von Flüchtlingsorganisationen aber sorgten nun zumindest vorerst für einen Stopp des Transports auf das im Hafen von Portland in Dorset ankernde Lastschiff.
Das Internierungsschiff ist mittlerweile zum Synonym für die Migrationspolitik der britischen Regierung geworden. Während das Land an der höchsten Inflation aller G-7-Staaten, steigender Armut und einem zunehmend überforderten Gesundheitssystem leidet, betonen der Premierminister und seine populistisch agierende Innenministerin, wie wichtig die Mission „Stop the Boats“ sei, also das Verhindern, dass jede Woche ein paar Hundert Flüchtlinge aus Frankreich in Schlauchbooten nach England fliehen. Unter dem neuen, umstrittenen Migrationsgesetz kann die Regierung auf diese Weise Geflüchtete automatisch als illegal einstufen und abschieben.
Das eigentliche Problem, den bürokratischen Rückstau bei den Asylanträgen, löst das Gesetz allerdings nicht. Derzeit warten rund 166.000 Antragsteller auf einen Bescheid. Die Zahl schoss seit Dezember 2017 um mehr als 400 Prozent nach oben, obwohl die Zahl der Asylanträge nur um 160 Prozent stieg. Als Gründe gelten insbesondere die teils ausufernde Bürokratie nach dem Brexit, aber auch die schlechte personelle Ausstattung der entsprechenden Behörden.
Die Regierung bringt inzwischen viele Flüchtlinge in Hotels unter, was nach Angaben des Innenministeriums rund 6,5 Millionen Euro täglich kostet. Wegen der hohen Kosten entschied die Regierung im April, auf das Schiff zurückzugreifen, zumal „Frachtschiff“ in den Ohren der konservativen Stammwähler eben doch besser klingen dürfte als „Hotel“.
Die Bibby Stockholm, 90 Meter lang und 27 Meter breit, hat eine bewegte Geschichte: 1976 wurde sie gebaut, 1992 vom Frachtschiff in ein Schiff mit Wohncontainern umgewandelt. In den 1990ern lag sie in Hamburg, mehr als 50 Obdachlose waren damals dort vorübergehend untergebracht. In den 2000er-Jahren ankerte es in Rotterdam, um Asylsuchende unterzubringen. 2008 starb ein Flüchtling auf dem Schiff an Herzversagen, schuld soll laut einem Jahre später veröffentlichten Untersuchungsbericht damals auch die schlechte medizinische Versorgung auf dem Schiff gewesen sein.
Später wurde das Schiff von einer Firma in Schottland genutzt, um Arbeiter unterzubringen, einige von ihnen kritisierten menschenunwürdige Zustände an Bord. In den vergangenen Jahren stand das Schiff leer – bis sich irgendjemand in der britischen Regierung daran erinnerte. Der Vertrag mit dem Eigentümer, der britischen Firma Bibby Line, läuft zunächst für 18 Monate.
Anfang Juli schrieben mehr als 50 britische Flüchtlingsorganisationen einen offenen Brief. Darin forderten sie die Firma nicht nur auf, die problematische Vergangenheit ihres Gründers – dem Verbindungen zum Sklavenhandel im frühen 19. Jahrhundert vorgeworfen werden – offenzulegen, sondern auch zu verhindern, dass auf ihren Schiffen Geflüchtete untergebracht werden.
„Menschen auf einem Containerschiff einzuquartieren, die traumatische Erlebnisse insbesondere auf Schiffen hinter sich haben, ist nach unserer Ansicht grausam und unmenschlich“, heißt es in dem Brief. Und: Dass die britische Regierung vorhabe, in den für eine Person ausgelegten Kabinen zwei Personen unterzubringen, das sei „wie in vielen britischen Gefängnissen“.
Nun schrieb auch die Gewerkschaft der Feuerwehr, die FBU, einen Brief, und zwar an Innenministerin Suella Braverman. 500 Menschen auf einem Schiff zusammenzupferchen, dessen Wohncontainer für etwas mehr als 200 ausgelegt seien, das sei „ein ernst zu nehmendes Risiko“, weshalb man um ein Treffen mit ihr bitte. Die FBU befürchtet eine „Tragödie“, sollte die Regierung tatsächlich wie angekündigt Flüchtlinge ohne weitere Sicherheitsmaßnahmen dort unterbringen. Eine Antwort hat die FBU bislang nicht erhalten. Die „Unterkunft“ wurde nun von den örtlichen Behörden geschlossen: Das Schiff wurde evakuiert, nachdem im Wassersystem Bakterien gefunden wurden, die die Legionärskrankheit verursachen können. Das bringt die Pläne zur Präsentation der Regierungsstrategie erneut ins Wanken.
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