Im Europäischen Parlament sind manche bereits beunruhigt, zwei Monate vor den Wahlen: Zumindest deutsche Abgeordnete machen sich Sorgen, dass die Partei Dava ein bis zwei Sitze erhalten könnte.
Gerade einmal dreizehn Tage alt war die politische Vereinigung Dava, Kurzform für „Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch“, da sah sich ihr Vorsitzender Teyfik Özcan bereits zu einer ersten offiziellen Stellungnahme gezwungen: Man beobachte „mit großer Sorge“ die „gezielten Versuche“, die Dava zu diffamieren. „Erdogan-Partei“ hatten manche Medien in Deutschland die neue Vereinigung genannt, vor einem „verlängerten Arm“ der Regierung des türkischen Präsidenten in Deutschland warnte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai. Laut dem Dava-Vorstand alles Verleumdungen.
Tatsächlich gibt es in ihren Reihen ein Bündel personeller Verflechtungen, die eine gewisse Nähe zur türkischen Regierungspartei AKP nahelegen. Fatih Zingal, Dava-Spitzenkandidat für die Europawahl, war lange Mitglied im Vorstand der Union der Internationalen Demokraten (UID), ein Lobbyverband der AKP, der in Deutschland und Europa aktiv ist. Ein weiterer Kandidat, Ali Ihsan Ünlü, war Vorstand des niedersächsischen Ablegers des Islamverbands Ditib, der der türkischen Religionsbehörde Diyanet unterstellt ist. Laut Özcan „persönliche Vorlieben“ der Kandidaten.
Derzeit sammeln die Gründer der Dava Unterschriften. 4.000 Stück benötigt man für eine Teilnahme an der Europawahl. Angesichts der Tatsache, dass die Organisation bisher weder Parteistatus noch ausreichend Personal, Strukturen oder die benötigten Unterschriften hat, halten viele Experten die massive Resonanz für übertrieben. Auch der Blick auf die Geschichte anderer türkisch-deutscher Kleinstparteien wie der Allianz Deutscher Demokraten, kurz ADD, oder der Big-Partei deuten darauf hin, dass derartige Projekte eher unbedeutend bleiben. Warum also die heftige Reaktion? Gibt es ein Momentum, das dafür sorgen könnte, dass die Dava mehr Erfolg haben wird als ähnliche Parteien?
Der 7. Oktober kann daher ein thematisches Vehikel für die Bewegung darstellen, Unterstützer für die Teilnahme an der Wahl und Stimmen am Wahltag zu bekommen. Muslime in Deutschland sind aufgebracht und frustriert von der vermeintlichen Zurückhaltung der Bundesregierung, wenn es darum geht, die israelischen Angriffe zu verurteilen. Diese Lücke möchte die Dava füllen. In ihrem Programm spricht sich die Dava für eine Zwei-Staaten-Lösung auf Basis der Grenzen von 1967 aus. Nahostexperten, Stiftungen und auch die Bundesregierung teilen diese Forderung. An Letztere richtete die Dava in den sozialen Medien jüngst einen Appell: Stoppt die Militäroffensive in Rafah. Die israelischen Angriffe seien „Mittel der ethnischen Unterdrückung und Säuberung“, heißt es dort. Auf ihren Facebook-Accounts äußern sich die Gründer der Dava noch deutlicher. Gaza sei „aktuell das größte KZ auf der Welt“, schrieb Teyfik Özcan Ende vergangenen Jahres auf der Plattform. Er sagt allerdings auch, Überfälle, wie sie die Hamas verübt habe, „dürfen nicht sein“.
Der Krieg im Nahen Osten hat zu einer Politisierung unter den Muslimen in Deutschland geführt habe. Die Aufmerksamkeit solcher Themen flacht jedoch auch mit der Zeit ab. Nachdem der Bundestag am 2. Juni 2016 die Armenien-Resolution verabschiedet hatte, war die Empörung innerhalb der türkischstämmigen Community ebenfalls groß, noch im selben Monat war damals als Reaktion die ADD entstanden. Viele Stimmen erhielt sie nie.
Ein großer Teil der Menschen, die für die Dava als Wähler infrage kommen, würde eher ausländische als deutsche Medien verfolgen. Die hiesige mediale Debatte ist eine Art deutsch-deutsches Selbstgespräch. Experten glauben nicht, dass das Medienecho die Dava weit bringen wird. Richtig ist aber auch, dass viele Migranten und türkeistämmige Menschen in Deutschland Rassismus und Isolation erleben und sich von den Parteien im Bundestag nicht angesprochen fühlen – das verstärkt die Sehnsucht nach einer Partei, die diese Gefühle aufgreift.
Wie groß das Wählerpotenzial der Dava ist, ist unklar. Es leben zwar etwa 5,5 Millionen Muslime in Deutschland, und mehr als 40 Prozent von ihnen besitzen auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Aber sie sind alles andere als ein homogener Block, wenn es um ihre politischen Einstellungen geht. Die Zielgruppe werden konservative türkeistämmige Muslime sein, die sie über ihre Verbindungen zum Netzwerk der Ditib-Moscheen erreicht werden. Durch den jüngst im Bundestag verabschiedeten erleichterten Zugang zur doppelten Staatsbürgerschaft könnte die Zahl potenzieller Wähler und Wählerinnen der Dava leicht steigen. Für einen Einzug ins EU-Parlament gibt es außerdem keine Sperrklausel. Für Kleinstparteien wie die Dava könnte es zudem die vorerst letzte Chance auf einen Einzug in das Parlament sein, denn die Bundesregierung hatte im vergangenen Jahr beschlossen, sich für eine Änderung des EU-Wahlrechts einzusetzen. Demnach könnte zur Wahl 2029 eine Zweiprozenthürde gelten.
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