Die spanische Exklave Ceuta ist zum Synonym geworden für ein koloniales System, welches für seine Bewohner keine Perspektiven mehr bietet: Arbeit- und Perspektivlosigkeit, Inflation, hohe Kriminalität. Während Spanien und die EU sich weiter abschottet und Grenzzäune brutale Realität werden, wächst dort eine Generation heran, die nichts zu verlieren hat.
Ceuta, die spanische Exklave auf marokkanischem Territorium: Direkt am Hafen eine Discounter-Filiale wie in vielen europäischen Städten. Marokkanische Straßenkinder, die hier gutes Geld verdienen können helfen beim Einpacken der Einkäufe, sie tragen die Tüten zu den Autos der Kunden. Immer wieder schweift ihr Blick auf den Hafen und auf das gegenüber liegende Ufer. Dort ist Europa, nur eine Stunde Bootsfahrt entfernt.
Junge Menschen, die in Ceuta auf der Straße leben, trennt nur ein Zaun von der Mole, an der die Fähren über die Straße von Gibraltar ablegen. Das Meer hier scheint friedlich zu sein, sanfte Wellen umspülen die Mole an der Anlegestelle für die Fähren nach Europa. Aber der Schein trügt: Im vergangenen Sommer hätten in einem Monat 80 junge Marokkaner versucht, auf diese Weise aus Nordafrika zu fliehen, obwohl mehr als vierzig in den vergangenen eineinhalb Jahren ertrunken sind. Erst vor wenigen Tagen starb wieder ein Jugendlicher, er wurde nur 17 Jahre alt.
Die wirtschaftliche Situation der 84.000 Einwohner wird immer prekärer. Die Exklave ist eine der ärmsten autonomen Regionen Spaniens. Nahe der weihnachtlich geschmückten Einkaufsmeile mit den Filialen bekannter Modeketten liegt einer der größten sozialen Brennpunkte des ganzen Landes.
Ceuta ist Afrikas Sprungbrett nach Europa. Im Auffanglager warten gut 300 Migranten aus Ländern wie Guinea und Sudan nur darauf, dass die Behörden sie aufs Festland bringt, wo sie dann machen können, was sie wollen. Davon träumen auch die Jungen am Discounter. Ihre Ungeduld ist zu groß, um in einer der Unterkünfte für Minderjährige abzuwarten, in denen derzeit 230 junge Marokkaner untergebracht sind.
Zwei mächtige Zäune sollten die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko vor Migranten schützen. Dort spitzt sich die Lage immer wieder zu. Als am 24. Juni Hunderte Menschen vor allem aus dem Sudan versuchten, den Zaun nach Melilla zu überwinden. Mindestens 23 Menschen starben, Dutzende gelten als vermisst. Der spanische Amnesty-International-Direktor sah ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“; von „massiven Tötungen, Verschwindenlassen von Menschen, Folter, Pushbacks und Rassismus“ sprach Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard. Mehr als 2900 Leute schafften es laut UNHCR 2022 nach Ceuta und Melilla. Wegen der Corona-Pandemie hatte Marokko die Grenze zu Spanien im März 2020 geschlossen. Aber auf einmal stellten die marokkanischen Beamten ihre Arbeit ein. Sie ließen jeden passieren und ermunterten die Bewohner der benachbarten Orte sogar, nach Ceuta zu gehen. Sogar Schulkinder sollen zum Zaun gebracht worden sein. Polizisten sagten angeblich, auf der spanischen Seite warteten die Fußballstars Ronaldo und Messi auf sie. Mehr als 8.000 Marokkaner stürmten und schwammen hinüber. Tagelang irrten sie durch die Straßen, schliefen in den Parks.
Der Vizepräsident der EU-Kommission Margaritis Schinas reagierte auf die Katastrophe im spanischen Radio mit starken Worten: Europa lasse sich von niemandem „einschüchtern“ und werde „kein Opfer solcher Taktiken sein“. Er bezog sich damit auf die Tausenden Migranten, die von Marokko aus in die spanische Exklave Ceuta schwammen. Die EUzeigt mit solchen Aussagen eine traurige Ironie. Denn es ist die EU selbst, die – vor allem seit den großen Migrationsbewegungen 2015 – die Kontrolle der Außengrenzen der Union an andere Staaten ausgelagert hat.
Die marokkanische Regierung wollte damals im Streit um die Westsahara Druck auf Spanien ausüben. Doch den meisten Menschen, die herüberkamen, war die Politik egal. Sie wollten einfach nur weg. Die Erwachsenen kehrten bald fast alle zurück. Aber knapp tausend Minderjährige blieben. Es dauerte mehr als ein Jahr, bis die letzten von ihnen die Fähren zum spanischen Festland bestiegen. Ceuta war hoffnungslos überfordert.
Viel Bürgerengagement will besonders den minderjährigen Gestrandeten helfen, die sonst keine Orientierung haben, nichts zu essen und zu trinken. Manchmal können sie aber nicht mehr tun, als das Gesicht eines Ertrunkenen in den sozialen Netzwerken zu veröffentlichen. Sie begleiten die Toten auf ihrem letzten Weg zum islamischen Friedhof von Ceuta. „Das tut sehr weh. Ich muss Mütter davon überzeugen, dass ihr Kind tot ist. Sie wollen es oft wochenlang nicht wahrhaben“, sagt ein Mitarbeiter.
37 Beerdigungen haben Mitglieder einer Initiative seit Mai 2021 schon auf dem Friedhof der Moschee begleitet. Sie nehmen ein kurzes Video für die Angehörigen auf, das die letzte Waschung und die Beisetzung zeigt. Danach verschwindet der in ein weißes Leintuch gehüllte Leichnam in einem der Gräber. Vom Friedhof ist das Meer zu sehen, in dem die jungen Marokkaner den Tod fanden. Nur wenige Kilometer entfernt sind sie aufgewachsen. Jetzt, auf dem Friedhof von Ceuta, haben die meisten nicht mal mehr einen Namen.
Die Krise in Ceuta begann lange vor dem Ukraine-krieg und der Inflation. Die große Stärke der Kleinstadt war früher ihre Nachbarschaft. Ceuta und die zweite spanische Exklave Melilla sind die einzigen Orte, in denen Europa und Afrika unmittelbar aneinandergrenzen. Das zieht nicht nur die an, die von dort aus zum Sprung auf den gelobten Kontinent ansetzen. Die Nähe war für beide Seiten ein sehr gutes Geschäft, das für viele Arbeitsplätze sorgte. Doch dann kamen die verriegelten Grenzen. Erst vor wenigen Monaten öffnete Marokko nach mehr als zwei Jahren das Tor wieder einen Spalt breit.
Heute brauchen alle Marokkaner ein teures Schengen-Visum oder müssen einen Arbeitsvertrag nachweisen, um nach Ceuta zu kommen. Früher konnten die Bewohner der marokkanischen Nachbarregion Tetuan ohne Einreisegenehmigung in die spanische Exklave fahren, dort arbeiten und einkaufen. Aus Ceuta durften sie so viel mitnehmen, wie sie tragen konnten oder in ihr Auto passte. Das war lukrativ, weil die Stadt von der spanischen Mehrwertsteuer befreit ist. Jeden Tag kamen bis zu 30.000 Marokkaner, das entspricht mehr als einem Drittel der Einwohnerzahl. Tausende blieben den ganzen Tag und arbeiteten als Haushaltshilfen, Bauarbeiter, Taxifahrer oder Prostituierte. Die meisten kauften nur ein und kehrten schnell wieder zurück.
Wenn ein Bild diese vielen Jahre prägte, dann war es die Karawane schwer bepackter Frauen, die jeden Tag einen großen Teil der Waren auf ihren Rücken über die Grenze schleppte, auf die marokkanischen Grenzbeamten keine Zölle erhoben. Denn Marokko erkennt die spanische Herrschaft über die Stadt nicht an. Spanische Geschäftsleute verdienten gut an dem „atypischen“ Handel, wie der Schmuggel beschönigend hieß. Hunderte Millionen Euro setzten sie jedes Jahr um, die Exklave profitierte von den Einfuhrabgaben.
Schon vor der Pandemie bemühten sich Marokko und Spanien, diesen Austausch in geregeltere Bahnen lenken. Nun kommt alles zusammen und trifft viele Menschen hart. Die Situation auf beiden Seiten der Grenze ist mittlerweile dramatisch. Rund ein Viertel der Geschäfte und Betriebe in Ceuta hat geschlossen, die Arbeitslosigkeit stieg zeitweise auf bis zu 40 Prozent.
Marokko hat kein Interesse daran, sich um noch mehr junge Menschen ohne Arbeit kümmern zu müssen, die womöglich im Land bleiben. Davon gibt es in Marokko nämlich schon viele: Vor Jahren hatte das Land massenhaft Aufenthaltsgenehmigungen für Migranten ausgestellt – das sei allerdings schon lange vorbei, jetzt schiebe die Regierung verstärkt ab. In Marokko ist die Situation nun mal nicht so wie in Europa, wo vielen langsam klar werde, dass sie ein Interesse daran haben, dass Migranten kommen. „Die marokkanische Gesellschaft muss erst einmal die eigenen Leute ausbilden und in Brot bringen“, sagt der Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. Denn Marokko ist selbst ein Land mit einer überwiegend jüngeren Bevölkerung, die der Arbeitsmarkt kaum aufnehmen kann. Die Jugendarbeitslosigkeit ist hoch. Deswegen wollen auch gerade viele junge Marokkaner weg – wenn sie können, mit Visum und Flugzeug, wenn sie müssen, per Boot über das Mittelmeer oder eben in die spanischen Exklaven.
Mehr als die Hälfte der Einwohner von Ceuta sind Muslime, die meisten von ihnen stammen aus Marokko. Spanien will seine Exklaven aber auf keinen Fall aufgeben und lässt sich das viel kosten. Beamte, die dort arbeiten, erhalten im Vergleich zum Festland eine Zulage von fast einem Drittel ihres Gehalts. Sie können sich die schicken Restaurants leisten, wenn es einmal schnell gehen muss, gibt es den ebenfalls subventionierten Hubschrauber-Shuttle hinüber nach Algeciras oder Málaga.
In der Stadt prallen die Welten aufeinander wie kaum irgendwo sonst. Wer die kleine spanische Landspitze in Afrika verstehen will, muss ein paar Minuten das Meeresufer entlangfahren. Schnell fühlt man sich wie in einem Dorf in Marokko, woher auch die meisten Einwohner stammen. Am steilen Hang über dem martialischen Grenzzaun erhebt sich ein Viertel. Die bunt gestrichenen Häuser entlang der engen, gewundenen Straßen sind zusammengewürfelt. Die Familien bauten für Kinder und Enkel einfach ein Stockwerk auf das nächste.
Unterhalb der Häuser erstrecken sich wilde Müllkippen. In die engen Gassen wagt sich nach Einbruch der Dunkelheit selbst die Polizei nur noch im Notfall hinein. Das Viertel gilt als das gefährlichste in Spanien und nimmt auch im restlichen Europa einen traurigen Spitzenplatz ein. Unter den jungen Einwohnern haben mehr als 80 Prozent keine Arbeit, die meisten keinen Schulabschluss. Seit die Wirtschaft zusammengebrochen ist und sich der Drogenhandel nach Tanger verlegt hat, gibt es auch für Tagelöhner kaum noch etwas zu tun. Knapp 10.000 Menschen wohnen in dem Stadtteil, in dem mehr Moscheen stehen als Schulen, 99 Prozent sind Muslime. Drei Menschen starben in diesem Jahr bei mehr als einem Dutzend Schießereien. Die jungen Banden bekämpfen sich mit Messern und halbautomatischen Waffen. Die Angst, von einem Querschläger getroffen zu werden, gehört zum Alltag. Im Oktober wurde ein Mann in einem Haus an der Hauptstraße erschossen.
Politiker lassen sich hier nicht blicken. Im Zentrum von Ceuta ist das Rathaus strahlend hell beleuchtet, im Problemviertel fehlen die Straßenlaternen. „Die Menschen fühlen sich vergessen und aufgegeben. Aus Madrid und von der EU fließen Millionen nach Ceuta, aber bei uns kommt nichts an. Seit Jahren betteln wir um eine Polizeiwache“, sagt ein Bewohner. Es ärgert ihn, wenn die Medien sein Viertel dämonisieren, denn vieles ließe sich ändern. „Armut und Hoffnungslosigkeit sind der Nährboden für Terrorismus und noch viel mehr für Kriminalität. Wer es hier nicht rausschafft, ist leichte Beute für sie“, sagt er.
Europa reagiert mit Abschottung, immer mehr Menschenrechtler werfen der EU dabei Doppelmoral vor: Während Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine bereitwillig aufgenommen werden, würden andere Hilfsbedürftige an den Außengrenzen abgewiesen, teils mit brutalen Maßnahmen. „Tragischerweise sterben immer noch viel zu viele auf dem Meer bei der Suche nach Schutz“, heißt es in einem Appell des UN-Flüchtlingshilfswerks an die EU. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) beklagt: „Zurückweisungen und Missbrauch an den Landgrenzen gehen weiter und viele Menschen, die Schutz suchen, dürfen nicht nach Europa.“
In der ganzen Debatte rund um Ceuta verweist die EU-Kommission immer gern auf ihren im Herbst 2020 vorgestellten Migrationspakt. Ein wichtiger Baustein des Vorschlags ist es, enger mit Nachbarländern zusammenzuarbeiten, um illegale Einreisen in die EU zu verhindern. Ceuta könnte also ein Vorbote sein, für das was noch kommen wird.
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