„Der Nahost-Konflikt ist kompliziert“ – eine Aussage, die in aktuellen Stellungnahmen oft erwähnt wird und nicht geleugnet werden kann. In Zeiten von Social Media und Breaking News ist Komplexität jedoch eine lästige Kategorie: Sie erfordert eine intensivere Recherche, erfordert umso umfangreichere Analysen, kostet Zeit und erschwert die Meinungsbildung. Wie können wir mit dieser Komplexität umgehen?
Wenn das reguläre Bild eines Religionskrieges oder einer Inkompatibilität der Kulturen plausibel erscheint, wenn die Raketen am israelisch-palästinensischen Nachthimmel zu technikbegeisterten Militäranalysen führen, wenn schlichte Hassparolen absolute Schlussfolgerungen suggerieren, dann fallen fast oder immer zwei Kategorien weg: Chronologie und Macht.
Der journalistische israelisch-palästinensische Diskurs wird von der Tagespolitik dominiert. Zwar wird hin und wieder nach dem „Warum“, also den Gründen für die Eskalation, gefragt, die Antworten fokussieren sich allzu oft auf das „Was“, also die aktuelle Lagebeschreibung. Statt einer klassifizierenden Überprüfung – wenn auch nur für wenige Tage – ist ein Teil der deutschen Berichterstattung nicht mehr von den kalten Opferzahlen in Live-Tickern zu unterscheiden.
Der massive Raketenbeschuss Israels aus dem Gazastreifen ist eine Tatsache. Israels Bombardierung des Gazastreifens ist eine Reaktion auf diese Gewaltanwendung der Hamas. Hier kommt das Element der Chronologie ins Spiel: Ohne sie, ohne jede zeitliche Einordnung sind Aktion und Reaktion, Gewalt und Gegengewalt einfach nicht voneinander zu unterscheiden.
Analysen, die versuchen, die aktuelle Gewalteskalation zu erklären, aber Scheich Jarrah ignorieren, die Logik und Dynamik von Gewalt und Gegengewalt übersehen, die Macht historischer Kontexte vereinfachen und unterschätzen. Ohne auf die lange Geschichte des Nahost-Konflikts einzugehen, geht ein Blick einige Tage zurück bis Anfang Mai.
Inzwischen ist fast vergessen, dass die repressiven Räumungen der israelischen Polizei und Siedlerbewegung gegen palästinensische Familien in Ost-Jerusalem der Ausgangspunkt der aktuellen Gewalt waren. Als sich die israelischen Sicherheitskräfte näherten, warfen palästinensische Demonstranten auch Steine auf das Gelände der Al-Aqsa-Moschee. Die israelischen Sicherheitskräfte reagierten mit einer kalkulierten Provokation: Im Wissen um die Wirkung stürmten bewaffnete Einheiten am 10. Mai, mitten des Ramadan, die Al-Aqsa-Moschee mit Blendgranaten und Gummigeschossen.
Was ist der qualitative Unterschied zwischen Gewalt und Gegengewalt, wenn am Ende doch auf beiden Seiten Menschen sterben?
Erst dann hat die Hamas in Gaza, die Israel bis 19 Uhr ein Ultimatum gestellt hatte am selben Montag die Gelegenheit genutzt, sich als perfider Retter der Palästinenser auszugeben und Raketen auf Israel abzufeuern. Für Netanjahu war es eine willkommene Gelegenheit, sich bei den rechten Kräften im Land populär zu machen und die eingeschlossene Metropole zu bombardieren.
Und noch einmal: Die Logik der Gewalt, die Gegengewalt provoziert, macht sie weder legitim, noch gibt sie ihr einen moralischen Freibrief. Es ist genauso verwerflich, genauso falsch. Die Aktions- und Reaktionslogik hält den Konflikt am Laufen und wird sowohl von der islamistischen Hamas als auch von der rechten israelischen Regierung zynisch ausgenutzt. Aber was ist der qualitative Unterschied zwischen Gewalt und Gegengewalt, wenn am Ende doch auf beiden Seiten Menschen sterben?
„Reden wir über Machtungleichheit“: Trevor Noah, der südafrikanische Moderator der „Daily Show“, eröffnete mit diesem Satz eine seiner Sendungen, die allein auf Instagram mehr als 9 Millionen Mal angesehen wurde. Die Machtfrage trifft den Kern des Konflikts und kann helfen, die nie endende Spirale der Gewalt besser einzuordnen.
Oft ist von Extremismus, Hass und unzähligen Opfern „auf beiden Seiten“ die Rede. Lediglich die Machtfrage gibt Aufschluss über diese ineffektiven Analysen, die oft auf wenige Minuten gepfercht sind. Die Machtfrage regelt das Verhältnis zwischen Unterdrückten und Unterdrückern, Besetzten und Besatzern, Opfern und Tätern. Es schafft nicht immer endgültige Klarheit, aber es sollte zuerst nachgefragt werden.
In den meisten Fällen intervenierte die israelische Polizei, um ihre Landsleute vor dem palästinensischen Mob zu schützen; in vielen Fällen war dies für die Palästinenser nicht der Fall
Die verallgemeinerte „Both Sides“-Framing ist deshalb so problematisch, weil sie einerseits die Machtverhältnisse verkürzt und andererseits die Machtverhältnisse verschleiert: Die systematische Unterdrückung der Palästinenser wird meist nicht erwähnt, obwohl Institutionen wie Human Rights Watch, die Vereinten Nationen und die EU sind diesbezüglich besorgt und kritisieren immer wieder die israelische Regierung.
In der jüngsten Vergangenheit kam es in vielen Teilen Israels zu Morden auf beiden Seiten – sowohl bei Israelis als auch bei Palästinensern. Nun erscheint die Differenzierung der Gewalt auf beiden Seiten unlösbar und sinnlos, geradezu verwerflich, doch ein kritischer Blick offenbart den grundlegenden Unterschied: In den meisten Fällen intervenierte die israelische Polizei, um ihre Landsleute vor dem palästinensischen Mob zu schützen; für die Palästinenser – das heißt Araber mit israelischer Staatsbürgerschaft – war dies in vielen Fällen nicht der Fall; die Polizei hat die Gewaltexzesse begleitet oder sogar teilweise daran beteiligt. Eine nüchterne Bestandsaufnahme mit enormer Wirkung und beispielhafter Qualität: Es herrscht ein Machtgefälle zwischen Palästinensern und Israelis.
Schließlich kommen wir zum Raketenbeschuss der Hamas und der israelischen Bombardierung des Gazastreifens. An dieser Stelle könnte man über Motive, Berechnungen oder Prognosen streiten, aber darum geht es nicht. Folglich muss auch hier die Machtfrage gestellt werden. Wenn deutsche Medien die Hamas als „extremistisch“, „militant“ (Tagesschau, 11./17. Mai) und „radikal-islamische palästinensische Organisation“ (Frankfurter Rundschau, 17. Mai) zusammenfassen, suggerieren sie, dass die Hamas mit ihrer Gewalt alle Palästinenser repräsentiert – ein rassistischer Essentialismus.
In der wissenschaftlichen, insbesondere anglophonen Literatur ist oft von einem asymmetrischen Konflikt die Rede. Dies drückt sich beispielsweise darin aus, dass Israel über das mobile Raketenabwehrsystem „Iron Dome“ verfügt, Gaza jedoch nicht. Der unterschiedliche Anteil der Opferzahlen unterstreicht die Asymmetrie dieses Konflikts: Auf palästinensischer Seite sind bisher fast 200 Menschen gestorben, darunter 58 Kinder – allein in Gaza. Bisher hat Israel zehn Menschen verloren, darunter zwei Kinder (Stand 17. Mai 2021).
Ideologisches Lagerdenken, polarisierende Schlagworte und polemische Anfeindungen nehmen Fahrt auf
Der Gazastreifen ist seit 2006 von Israel abgeriegelt, mit dramatischen Folgen für die medizinische Versorgung, das Bildungssystem und die gesamte Infrastruktur. Als Besatzungsmacht kontrolliert Israel die Ein- und Ausreise aller Menschen und Güter wie Lebensmittel oder dringend benötigte Medikamente.
Gerade in Kriegszeiten (2008, 2008/9, 2012, 2014) oder während der Covid-Pandemie führten diese Umstände zu besonders hohen Sterberaten. Dieses Muster ist jetzt wieder zu beobachten. Auch ohne die aktuellen Bombenanschläge befindet sich die Bevölkerung von Gaza in einem fortwährenden Gefängniszustand.
In Bezug auf Israel und Palästina vermeidet die „Both Sides“-Rhetorik eine kritische Auseinandersetzung mit einer Chronologie der Eskalation und den dahinter stehenden Machtstrukturen. Dies betrifft nicht nur die richtige Analyse der politischen Lage, sondern auch den sachlichen Diskurs: Ideologisches Lagerdenken, polarisierende Schlagworte und polemische Anfeindungen nehmen so Fahrt auf.
Es ist an der Zeit, sich wertfrei auf die Kategorien Chronologie und Macht zu konzentrieren, um die Grundlage für eine zielgerichtete Diskurskultur zur Israel/Palästina-Frage zu schaffen.