Die Wienerin Mercan Falter hat einen Großteil ihrer Familie in Hatay verloren. Sie berichtet davon, dass dort immer noch keine humanitäre Hilfe angekommen ist, die Überlebenden ganz auf sich gestellt sind. Selber errichten sie provisorische Zelte aus Stoffresten und Teppichen. Mercan gibt auch eine Erklärung,rarum in ihrer zweiten Heimat keine Hilfsgelder ankommen: Der türkische Staat habe Spenden von NGOs und Vereinen beschlagnahmt, die Gelder werden einfach nicht weitergeleitet an diejenigen, die seit Tagen Hilfe brauchen. Auch werden weiterhin Hilfstransporte, die die syrischen Opfer dringend brauchen, von türkischen Behörden an den Grenzposten gestoppt, sie dürfen nicht weiterfahren.
Der Zorn in den sozialen Medien konzentriert sich auf die Zustände in der türkisch-syrischen Grenzregion von Hatay. Erste, sporadische Hilfe kam erst nach zwei Tagen. Der Bürgermeister sagt im Fernsehen: „Wir rechnen nicht mit der Hilfe der Regierung. Wir werden ignoriert.“ Vor drei Wochen hatte er in einer Fernsehsendung gewarnt, dass es bald ein Beben geben werde, und er hat für mehr Zusammenarbeit beim Katastrophenschutz geworben: „Egal, wie viele Briefe wir schreiben, die melden sich nicht einmal zurück.“
Die Türkinnen und Türken müssen sich an Bilder gewöhnen, an die man sich nicht gewöhnen kann und will. Sie beerdigen die Toten in Feldern, in eilig aufgeschütteten Gräben, wie nach einem Massaker sieht es aus. Da ist das Foto eines Vaters, er lässt die Hand seiner Tochter nicht los, deren Leichnam noch unter den Trümmern liegt. Aus Hatay sendet eine Drohne Aufnahmen, die aussehen, als wäre die Stadt seit Jahren im Krieg.
Die Zahl der Toten stieg zuletzt noch sprunghaft, ungefähr täglich verdoppelte sie sich. Angehörige stehen vor den Trümmerhaufen ihrer Häuser und wissen, dass es für die Verschütteten kaum noch eine Chance gibt, die Überlebenden kämpfen selbst damit, dass kein Wasser aus der Leitung kommt, dass sie keine Lebensmittel finden. In Syrien ist die Lage ähnlich - nur schlimmer, weil dort kaum Hilfe aus dem Ausland ankommt. Mittlerweile ist die Lage dort so dramatisch, dass die Menschen nicht mehr genügend Nahrungsmittel bekommen.
„Plan des Schicksals“ nennt der türkische Präsident das verheerende Erdbeben im Osten der Türkei und im Norden Syriens. Erdogan regiert die Türkei schon so lange, dass man vergleichen kann, wie er auf andere Erdbeben reagiert hat. Im Jahr 2003 zum Beispiel, er war eben erst Premierminister geworden, bebte die Erde in der Provinz Bingöl. Damals versprach er Konsequenzen, er wolle sich anschauen, wer sich beim Bau bereichert habe. Und er sagte, man könne das Beben „nicht als Schicksal abtun“.
Der Präsident hat die Türkei geprägt, mit unzähligen neuen Wohnhochhäusern, für deren Bau er eine eigene Behörde schuf, mit Autobahnen, Brücken, Kliniken und mit Flughäfen noch im östlichsten Winkel von Anatolien. Die Türkei baut heute Drohnen und Elektroautos und redet bei den großen geopolitischen Fragen mit. Zum 100. Geburtstag der Republik in diesem Jahr sollte sie zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt aufschließen, das war Erdogans Vision und sein Ziel, nur Wochen vor den Wahlen, die über sein weiteres Schicksal entscheiden.
Nun sind es aber genau die Bauten des neuen Sultans, die bei den Beben beschädigt oder ganz zerstört wurden. Offenbar sahen sie nur modern aus, erdbebensicher waren sie nicht. Dort, im Erdbebengebiet, wo viele Erdogan immer noch verbunden sind, geht in diesen Tagen etwas zu Ende: der Glaube, er sei der Garant für Fortschritt, Größe, ein besseres Leben. Die Wut der Überlebenden richtet sich gegen die Bauunternehmer, deren Gebäude offensichtlich nicht erdbebensicher gebaut waren – wie eine Luxuswohnanlage in Hatay, vor zehn Jahren fertiggestellt, jetzt nur noch ein Haufen Schutt. Der verantwortliche Bauherr wurde auf der Flucht verhaftet, er soll angeklagt werden. Dabei ist jedem im Land klar, dass der Mann nur einer von sehr vielen ist. Die Türkei war in den vergangenen Jahren eine einzige Baustelle, das Tempo beim Bau oft imponierend schnell. Gefährlich schnell. In den vergangenen Tagen wurden insgesamt 200 Unternehmer und Bauingenieure verhaftet oder festgenommen.
Eigentümer, die ohne Genehmigung Gebäude errichtet oder ausgebaut hatten, konnten – meist gegen Zahlung einer Strafe – nachträglich ihre Bauten legalisieren. Das kam gut an in der türkischen Gesellschaft, wo die Eigenheimquote mit 59 Prozent deutlich höher ist als in Westeuropa. Da überrascht wenig, dass diese Amnestien stets am Vorabend einer Wahl beschlossen wurden. Dieses Wahlkampfgeschenk hat Erdogan, der selbst in einem erst nachträglich legalisierten Haus in einem Istanbuler Arbeiterviertel aufgewachsen ist, nicht erfunden. In den gut vier Jahrzehnten zwischen dem Übergang zum Mehrparteiensystem und dem Amtsantritt der AKP wurden acht Amnestien erlassen.
Vor drei Jahren rühmte sich der Staatspräsident bei einer Rede in Kahramanmaras im Epizentrum der heutigen Erdbebenkatastrophe: „Wir haben mit der Bauamnestie 144.000 Bürger von Kahramanmaras aufatmen lassen“. Vor den kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen war die nächste bereits in Vorbereitung. Darüber wollte das Kabinett am 6. Februar beraten, als just an diesem Tag um 4.17 Uhr Ortszeit in Kahramanmaras die Erde bebte.
Nun appellieren AKP-Propagandisten daran, die Katastrophe nicht zu politisieren. Doch die politischen Implikationen sind zu offensichtlich, weshalb Erdogan seine uneingeschränkte und direkte Kontrolle der Justiz- und Ermittlungsbehörden dazu nutzt, die Wut auf andere Adressaten zu lenken.
Die Helfer vor Ort klagen darüber, dass der Apparat überfordert sei. Die Führungsebenen, für die die Leute oft mehr nach politischer Treue als nach Kompetenz ausgewählt wurden – wer hat sie ausgesucht? Die Oppositionspolitikerin Meral Aksener sagte letzte Woche: „Erdogan hat ein Ein-Mann-Regime gewollt“, nun sei er auch „allein verantwortlich“.
Ein türkischer Journalist schrieb: Kann der Präsident noch gewinnen? Finden die Wahlen überhaupt planmäßig statt? Wird Erdogan freiwillig gehen, falls er abgewählt wird? Es ist Erdogan, „der uns in diese Lage gebracht hat“.
Die kritischen Stimmen bleiben nicht ungehört, auch nicht bei der von der AKP kontrollierten Justiz und den Sicherheitsbehörden: Über 50 Menschen, die sich in den sozialen Medien darüber beschwert hatten, dass der Staat die Opfer alleine lässt, sind bereits festgenommen worden. Aber auch die Opposition wird nun von Erdogan angegangen: Besonders die CHP hat er im Visier, die einen internen Bericht des Katastrophenschutzes AFAD öffentlich machte: Die Behörde selbst hatte bereits im Herbst 2022 festgestellt, dass man auf ein großes Beben nicht vorbereitet sei.
„Was hat die Regierung mit diesem Bericht gemacht?“, fragte CHP-Vorsitzender Kiliçdaroglu. „Haben Sie nicht zugehört?“ Sowohl er wie auch die kurdisch-linke HDP kritisieren außerdem, dass eigene Rettungsinitiativen von ihnen, insbesondere in den Städten, in denen sie den Bürgermeister stellen, von der Regierung eher behindert als befördert worden seien. Erdogan, so beklagt es die HDP, gehe es mehr um Kontrolle als um Hilfe. Dazu passt, dass der Präsident zwar keine Unterstützung im großen Stil, beispielsweise durch die Armee, organisierte, aber bereits am Dienstag den Ausnahmezustand für die gesamte Region verkündete, den das Parlament zwei Tage später schnell bestätigte. Dadurch lässt sich die Deutungshoheit über das Geschehen vor Ort besser kontrollieren. Der solle in zehn der 81 Provinzen drei Monate gelten. Er würde am 9. Mai auslaufen. Am 14. Mai sollen die Parlaments- und Präsidentenwahlen stattfinden. Der Ausnahmezustand kann Maßnahmen beschleunigen, aber auch kurz vor den Wahlen die Grundfreiheiten einschränken.
Erdogan begründete die Notwendigkeit des Ausnahmezustands damit, Plünderungen und Unruhestiftung zu verhindern. Kurz zuvor hatte Innenminister Süleyman Soylu indes erklärt, Plünderungen gebe es nicht. Die Oppositionsparteien haben zu verstehen gegeben, lediglich einem einmonatigen Ausnahmezustand zuzustimmen. Als Erdogan in Gaziantep sprach, zogen im nahe gelegenen Adiyaman, wo erst spät Helfer eintrafen und dann zu wenige, Unzufriedene protestierend zum Sitz des Gouverneurs. Polizisten mussten die dort Beschäftigten aus dem Gebäude eskortieren.
In einer der zu Ruinen gewordenen Städte befindet sich das Parteibüro der AKP: „Zusammen aufbrechen zu neuen Zielen“, steht über der Eingangstür, daneben das überlebensgroße Porträt des Staatschefs. Auf dem Plakat ist der heute fast 70-jährige Erdogan noch jünger, er strahlt die Kraft seiner früheren Herrschaftsjahre aus. Nun ist die Zentrale gesät mit Glasscherben und Betonbrocken.
Er geht in seinem dunklen Wollmantel auf die Trümmer der Häuser zu, spricht mit Opfern, mit Helfern. Er spricht über das Schicksal, dem man nicht ausweichen könne. Als wüssten die Bewohner das nicht selber. Ein Anwohner, vor seinem zerstörten Haus stehend, will eigentlich zu seinem Präsidenten gehen, ihn die Wahrheit ins Gesicht sagen. Er kommt aber nicht dazu, der fürs Grobe bekannte türkische Innenminister hält ihn zurück. Später sagt der Überlebende: „Unter den Trümmern liegen fünf Menschen begraben. Mein Sohn, meine Schwiegertochter, meine drei Enkel. Warum kommt der Präsident, was hat er mir zu sagen?“ Kurze Zeit später ist der Audienbesuch beendet. Erdogan legt zum Abschied die Hand aufs Herz, neigt kurz seinen Kopf und eilt mit seinem Innenminister und seiner Entourage zurück zur Limousine. Umstehende fragen: „Was soll das?“ Der Präsident sitzt schon im Auto, als eine der Angehörigen, eine Wolldecke um die Schultern, an die Scheibe der Präsidentenlimousine klopft. Erdogan öffnet das Fenster, sie sagt ihm etwas. Seine Antwort: Wir Menschen wissen nie, wann unser Tod uns ereilt und zitiert danach noch die Koransure Al-Zilzal, in der es um ein Erdbeben geht.
Was auch immer Erdogan jetzt tut, viele sind der Meinung, dass er aus dieser Katastrophe politisch nicht überleben kann. Zu groß ist die Katastrophe, zu unfassbar das Leid, zu absehbar die Dauer der Aufbaumaßnahmen. Ihm werden unangenehme Fragen gestellt werden, nicht nur von der Opposition, sondern vom Großteil der 85 Millionen Türken. Warum wurden keine Konsequenzen gezogen aus früheren Erdbeben? 1999 waren in Izmit bei Istanbul fast 20.000 Menschen umgekommen. Damals war bei den Rettungsarbeiten alles schiefgelaufen. Am Ende war die damalige Regierung auch deswegen nicht mehr gewählt worden, Erdogan kam bald danach an die Macht.
Das Beben jetzt könnte also der Schlussstrich unter seiner fast 20-jährigen Herrschaft werden. Auch in İzmit waren den Menschen Versprechungen gemacht worden, war eigens eine Erdbebensteuer eingeführt worden, mit der der Katastrophenschutz gestärkt, die aus billigem, gestrecktem Beton gebauten Häuser erdbebensicher gemacht werden sollten. 88 Milliarden Lira waren über die Jahre zusammengekommen. Das sind Milliarden Euro, die exakte Zahl lässt sich wegen des drastischen Währungsverfalls nicht berechnen. Angeblich ist ein Teil des Geldes zweckentfremdet worden, in andere Erdogan-Projekte geflossen, in den wählerwirksamen Ausbau der landesweiten Infrastruktur, in die Rüstung, in den Ausbau der AKP-Herrschaft. Vor allem sollen die Gelder in die religiösen Stiftungen geflossen sein, an das Diyanet, die Religionsbehörde. Deren Etat und Einfluss sind in den Jahren ins Gigantische gewachsen. Und dann die Korruption. Die Bauwirtschaft war immer eine Säule der Macht Erdogans, er hat mit Hilfe der wichtigen Unternehmer all die Brücken, Flughäfen, Autobahnen, Krankenhäuser und Moscheen gebaut. Die Baumagnaten haben gute Geschäfte gemacht, sehr gute Geschäfte, viel zu gute Geschäfte.
In der regierenden AKP regten erste Stimmen an, den Wahltermin angesichts der Erdbebenkatastrophe zu verlegen. Die Wahrscheinlichkeit dafür wird aber als gering eingeschätzt, denn die Verfassung sieht als einzigen Grund für die Verschiebung von Wahlen an, dass sich die Türkei im Kriegszustand befindet. Am 14. Mai sollen der Präsident und das Parlament neu gewählt werden. Der Erdogan-Weggefährte Bülent Arinç spricht von einem neuen Termin im November, also ein halbes Jahr später. Am liebsten sei ihm gleich das Jahr 2024. Man könne in den Erdbebengebieten schlicht keine Wahlen abhalten, heißt es. „Nur im Kriegsfall sieht die Verfassung eine Wahlverschiebung vor“, sagte Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu. „Wir sind nicht im Krieg.“ Die AKP wolle die Wahlen „vermeiden“, weil sie um die Macht fürchte. Dabei macht sich Kiliçdaroglu offenbar keine Illusionen darüber, wer in der Türkei einen Wahltermin festsetzt. „Es ist beschämend, dass die Justiz zum Hinterhof einer Partei geworden ist.“ Gemeint ist die AKP und wie sie Einfluss auf die Wahlbehörde nimmt.
Schließen soll dieser Artikel mit den Worten des türkischen Literatur-Nobelpreisträgers Orhan Pamuk, der in einem heutigen Beitrag folgendes schrieb: „Als sich der zweite Tag nach den Beben dem Ende zuneigt, werden die Geräusche, die von den Trümmer- und Betonhaufen ausgehen, leiser, und die Menschen auf den Straßen gewöhnen sich an das Grauen. Menschenmengen versammeln sich vor den Lieferwagen, die Brot und Lebensmittel verteilen. Aber die Wut, die Bitterkeit, die Verzweiflung darüber, von der Katastrophe eiskalt erwischt worden zu sein, bleiben. Es scheint keine Behörde, keinen Verantwortlichen zu geben, der die Bemühungen der Helfer bei ihrer Ankunft organisiert. Zum Entsetzen der Menschen sind sogar einige öffentliche Krankenhäuser zusammengebrochen. Zwei Tage später traf in den Zentren der wichtigsten Städte erste Hilfe ein. Aber für viele Menschen ist das das zu wenig und kommt zu spät.“
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