Europaweit steigt die Zahl der Asylbewerber seit einiger Zeit, ebenso steigt die Zahl der Toten im Mittelmeer. Beobachter von Flüchtlingscamps auf dem Balkan, in Griechenland, zum großen Teil von der EU und deren Mitgliedstaaten finanziert, berichten von menschenunwürdigen Verhältnissen. Diese sehen teilweise eher aus wie Hochsicherheitsgefängnisse. Wie kann nun eine Asylpolitik entwickelt werden, die den Bedingungen und Verhältnissen im 21. Jahrhundert entspricht? Die derzeitige Praxis des Asylrechts in der Europäischen Union strotzt nur so vor Widersprüchen, Ungerechtigkeiten, Inkonsequenzen, Überforderungen. Das fatale Ergebnis ist der massenhafte Tod im Mittelmeer. Der Soziologe Ruud Koopmans hat sich genau mit dieser Frage in seinem Buch beschäftigt. MENA Research Center hat bereits mit ihm vor einigen Wochen zu dieser und anderen Fragen in einer Podcast-Episode gesprochen.
Laut dem Institutsleiter des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB) hat die Flüchtlingspolitik Europas schon vor einiger Zeit ihre Bankrotterklärung abgegeben. Allein im Mittelmeer sind in den vergangenen zehn Jahren mehr als 20.000 Menschen auf der Flucht gestorben. Für ihn hat Europa das tödlichste Migrationssystem der Welt, etwa 70 Prozent der Menschen, die auf der Flucht sterben, waren auf dem Weg nach Europa waren, obwohl weltweit nur ein kleiner Anteil der Migration auf den Kontinent entfällt. Das Ziel einer Asylpolitik sollte für Koopmans sein, Menschen zu retten. Aktuell ist das Gegenteil der Fall.
Migration müsse besser kontrolliert und gleichzeitig ausgeweitet werden. Andere Länder wie Australien oder Kanada nehmen jedes Jahr eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen auf, in sogenannten Kontingenten, dies könne die EU auch machen. Dies ginge dann aber nur, wenn die EU-Staaten gleichzeitig alle anderen erstmal konsequent abweisen. Daher schlägt Koopmans vor, Asylverfahren in verschiedene Drittländer wie Marokko, Senegal oder Albanien auszulagern.
Sinnvoll wären feste nationale Kontinenten für Flüchtlinge und aus Asylverfahren, die allerdings nicht im Wunschland der Bewerber stattfinden, sondern exterritorial, in Drittstaaten. Koopmans tritt also für die „australische Lösung“ ein. In Europa wird sie derzeit von Dänemark und Großbritannien nachgeahmt, wenn auch nicht im Sinne Koopmans. Denn er plädiert dafür, dass die Härten ausgelagerter Asylverfahren durch großzügig bemessene Kontingente kompensiert werden. Für Deutschland hieße dies beispielsweise, dass jährlich weit mehr als hunderttausend Flüchtlinge aufgenommen würden – weit weniger als jetzt, aber weit mehr als in „normalen“ Jahren, vor allem aber vorhersehbarer, integrationsfähiger, konfliktfreier.
Nun stellt sich die Frage, ob in der Konsequenz Asylbitten verweigert werden sollten, wenn sie an einer EU-Außengrenze beantragt werden. Im Modell Koopmans‘ würde der Antrag auf Asyl sehr wohl geprüft – aber nicht in der EU, sondern in den Drittländern. Aktuell würden diejenigen geschützt werden, die den Weg bis zur EU auf sich nehmen können. Viele sterben dabei. Geholfen wird nicht den Schutzbedürftigsten, sondern denen, die es irgendwie schaffen, meistens junge Männer, während Alte, Kranke, Kinder und Frauen oft keine Chance haben, Asyl zu beantragen. Auch wird nicht den Menschen in Krisenregionen geholfen, aus denen es keine Route nach Europa gibt. Das gilt zum Beispiel für die Menschen im Jemen, wo ein furchtbarer Bürgerkrieg herrscht. Die Leute dort sitzen in der Falle.
Die Hürden für die legale Einreise sind fast unmöglich zu überwinden. Auf der anderen Seite gilt: Wer es einmal hierhergeschafft hat, der bleibt. Dies führt dazu, dass sich viele Menschen auf den gefährlichen Weg machen: Von den gut 2,2 Millionen Asylsuchenden, die sich zwischen 2014 und 2021 nach Spanien, Italien oder Griechenland aufgemacht haben, ist jeder hundertste ums Leben gekommen, auf der zentralmediterranen Route sogar jeder fünfzigste. Von denen, die es bis hierher schaffen, ist aber nur ein Teil tatsächlich schutzbedürftig. Viele der am meisten Schutzbedürftigen, wie die eine Million aus Myanmar geflohenen muslimischen Rohingya, lassen wir in der Kälte stehen.
Die EU bräuchte zunächst ein jährliches Kontingent für humanitäre Zuwanderung. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR beispielsweise würde für eine „Koalition der Willigen“ in Europa eine bestimmte Zahl an Schutzbedürftigen auswählen.Diese soll sich deshalb an den durchschnittlichen Quoten der seit 2013 in der EU anerkannten Asylbewerber orientieren: Das hieße 325.000 für die EU insgesamt. Diese großzügigen humanitären Aufnahmen dürfen aber nicht zu anderen Formen der Flüchtlingszuwanderung dazukommen – sondern müssen auf diese Quote angerechnet werden, wenn der politische Kompromiss tragfähig sein soll. In Jahren wie diesem, wo durch den Krieg in der Ukraine die Zahl weit überschritten wird, müsste man die Kontingente aussetzen. Für Menschen, die persönlich in direkter Gefahr sind – politische Dissidenten etwa –, müsste man die Möglichkeit der Beantragung eines humanitären Visums schaffen, zum Beispiel bei einer Botschaft eines EU-Staates.
Beispiele aus der EU selber legen nahe, dass Europa noch nicht einmal in der Lage ist, auf seinem eigenen Territorium menschenwürdige Unterkünfte aufzubauen. Koopmans meint, ein Land wie Griechenland hatte nie Interesse daran, menschenwürdige Flüchtlingslager einzurichten. Die griechischen und andere EU-Flüchtlingslager sind reine Abschreckungspolitik: Weil Europa keine Kontrolle über die Zuwanderung haben, setzen wir auf Abschreckung.
Ruud Koopmans: Die Asyl-Lotterie. Eine Bilanz der Flüchtlingspolitik von 2015 bis zum Ukraine-Krieg; C.H. Beck 2023
Alle Veröffentlichungs- und Urheberrechte sind dem MENA Research and Study Center vorbehalten.