Als der Islam längst in Deutschland angekommen war, blieb er noch viele Jahre weitgehend unsichtbar. „Alles, was bisher gültig war, was mich ausmachte als Individuum, hatte plötzlich keine große Wertigkeit mehr“, sagen noch heute diejenigen, die in den 1970ern aus der Türkei nach Deutschland kamen. Aufgefangen wurden und werden sie immer noch von der türkischen Religionsbehörde DITIB, mit ihren Moscheen und Kultureinrichtungen. Wenn man über die DITIB reden will, ist es gut, ihre Vorgeschichte zu kennen.
Die Migration aus der Türkei in den Norden war in den ersten Jahren dadurch gekennzeichnet, dass sich weder die türkische noch die deutsche Regierung übermäßig für die kulturellen, religiösen oder sozialen Angelegenheiten der Menschen interessierte. Auf türkischer Seite änderte sich das mit der „Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion“ (DITIB). Wie die ersten Moscheegemeinden trat auch sie vor 40 Jahren weitgehend unbemerkt ins öffentliche Leben der Bundesrepublik Deutschland ein. Kein Festakt markierte die Gründung des Moscheeverbands, sondern ein Verwaltungsakt: die Eintragung ins Vereinsregister beim Amtsgericht Köln am 5. Juli 1984. Die DITIB – zu der heute mehr als 900 Moscheegemeinden gehören – entstand auf Initiative der türkischen Religionsbehörde Diyanet und befindet sich seither im dauernden Spagat. Denn über die Diyanet ist sie einerseits unmittelbar mit der türkischen Regierung verbunden, andererseits ist sie ein Verein nach deutschem Recht.
Der größte sunnitisch-islamische Verband in Deutschland ist einer breiten Öffentlichkeit erst durch eine Reihe von Skandalen in den vergangenen Jahren bekannt geworden. Besonders große Empörung rief die DITIB hervor, als nach dem gescheiterten Putsch in der Türkei im Sommer 2016 mehr als ein Dutzend ihrer Imame Informationen über angebliche Anhänger des bei Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Ungnade gefallenen Predigers Gülen, über sonstige angebliche Feinde des türkischen Staats oder über „Terroristen“ zusammentrugen und nach Ankara weiterleiteten. „Wie kein türkischer Staatschef vor ihm, hat Erdoğan die DITIB politisch instrumentalisiert“, sagt der deutsche Politiker Karaahmetoglu. „Das fügt sich in seine allgemeine politische Rücksichtslosigkeit und Skrupellosigkeit.“ Erdogan habe die DITIB in Verruf gebracht. Doch es gebe eine Zeit nach Erdogan, dann werde sich auch der Moscheeverein verändern, glaubt der Sozialdemokrat. „Ich kenne einige Gemeinden, die sich immer wieder gegen die DITIB-Zentrale auflehnen. Ich setze also auch auf die Reformkraft von unten.“
Mittlerweile fordern viele Politiker parteiübergreifend seit Langem eine Moscheesteuer, damit die Gemeinden unabhängig werden können, sie gehen seit Jahren mit dem Moscheeverband hart ins Gericht. Zugleich betont die Politik, wie wichtig es sei, darüber die vielen seelsorgerischen Leistungen in den Gemeinden nicht aus dem Blick zu verlieren, beispielsweise die Jugend- und Frauenarbeit. Man verweist darauf, dass die DITIB im Todesfall auch Familien mit Rat und Tat zur Seite stehe, die keine Bindung zu dem Moscheeverband haben.
Eben deshalb sind in Deutschland die politischen Akteure aller Couleur seit je her ganz froh darüber, dass die DITIB die religiösen und sozialen Belange der Türken in Deutschland organisiert. Zumal sich Deutschland zunächst ausdrücklich nicht als Einwanderungsland sah und auch viele der als Gastarbeiter angeworbenen Türken lange im Bewusstsein lebten, früher oder später wieder in die Heimat zurückzukehren. Selbst als klar war, dass die meisten Gastarbeiter Wurzeln geschlagen hatten und bei ihren Kindern und Kindeskindern in Deutschland bleiben würden, waren alle Bundesinnenminister, ganz gleich ob mit SPD-, CDU- oder CSU-Parteibuch, dankbar-pragmatisch im Umgang mit der DITIB. Es war ja auch sehr praktisch: Gibt es Fragen oder Probleme, reicht ein Anruf. Ihre Abhängigkeit von Ankara fiel nicht weiter auf, solange die politischen Mehrheiten in der Türkei zu den deutschen Auffassungen zu passen schienen. Das war auch in den ersten Jahren der AKP-Regierung der Fall. Erst als die Auslandstürken das Wahlrecht in der Türkei zugestanden bekamen, änderte Erdogan den Kurs und machte die DITIB zum zentralen Pfeiler seiner Diasporapolitik in Deutschland. Wie erfolgreich sie ist, zeigte sich zuletzt bei der Präsidentschaftswahl im Mai vergangenen Jahres, als zwei Drittel der türkischen Wähler in Deutschland für Erdogan stimmten, während in der Türkei nur noch rund die Hälfte der Wähler für ihn votierten.
Vor 40 Jahren kam die DITIB der deutschen Politik auch aus einem anderen, sicherheitspolitischen Grund wie gerufen. Mit der DITIB reagierte die türkische Religionsbehörde nicht nur auf die religiösen Bedürfnisse der Brüder und Schwestern in Deutschland. Vielmehr ging es auch darum, unabhängigen und aus Sicht sowohl der damaligen türkischen als auch der deutschen Regierung gefährlichen Diasporagemeinden wie Millî Görüş, den Kaplan-Anhängern oder anderen politisch-islamischen Gruppen nicht das Feld zu überlassen. In solchen Gruppierungen sah Ankara eine Bedrohung für die gewünschte kollektive Identität der Diasporatürken und für das auf Atatürk zurückgehende laizistische Staatsverständnis. Die 1924 – also kurz nach der Staatsgründung – geschaffene Religionsbehörde Diyanet (und später ihre Auslandsvertretungen wie die DITIB in Deutschland oder die ATIB in Österreich) stehen keinesfalls im Widerspruch zum Laizismus türkischer Prägung. Anders als der französische Laizismus trennt der türkische Laizismus nicht Staat und Religion, sondern der Staat setzt die Religion für seine Zwecke ein. Mithilfe der Diyanet sollte der Volksislam in der Türkei unter staatliche Kontrolle gebracht, gesteuert und modernisiert werden.
Seit vielen Jahren ist das Verhältnis der DITIB zur deutschen Politik angespannt. Der Tiefpunkt war die Spitzelaffäre. Zeitweilig ermittelte der Generalbundesanwalt gegen 19 Imame wegen des Verdachts der geheimdienstlichen Tätigkeit. Zu einem weiteren Affront kam es im Herbst 2018. Die repräsentative, zumindest von außen architektonisch anspruchsvoll-moderne Zentralmoschee am DITIB-Sitz in Köln-Ehrenfeld, die als weithin sichtbares Zeichen der Integration geplant war, wurde nicht wie lange Jahre versprochen vom Bundespräsidenten eröffnet, sondern von Erdogan. Die Veranstaltung kam einem türkischen Staatsakt auf deutschem Boden, einer Demonstration der Macht gleich. An der Seite war damals Diyanet-Präsident Ali Erbas aus Ankara – der für die jüngste schwere deutsch-türkische Verstimmung mitverantwortlich war.
Trotz aller Eklats betrachtet die deutsche Politik die DITIB als unverzichtbare Partnerin. Das machte im Dezember auch die deutsche Innenministerin Nancy Faeser deutlich, als sie eine Imam-Vereinbarung mit der Diyanet als „wichtigen Meilenstein für die Integration und die Teilhabe muslimischer Gemeinden in Deutschland“ bezeichnete. Das Abkommen sieht vor, dass die Imame in DITIB-Moscheen mittelfristig nicht mehr von der Türkei entsandt werden. Stattdessen sollen jedes Jahr hundert Imame in Deutschland ausgebildet werden. Die Entsendung türkischer Prediger, die den Weisungen der Regierung in Ankara unterliegen, soll nach und nach in gleicher Stärke reduziert werden. Mitte Mai stellte sich dann bei einer Pressekonferenz der DITIB in Köln jedoch heraus, dass es sich bei 75 der Kandidaten um Theologieabsolventen aus der Türkei handeln wird, sie kommen also von Universitäten, die unter der Kontrolle von Diyanet und Erdogans AKP stehen. Die restlichen 25 Plätze sollen mit Absolventen des DITIB-Ausbildungsprogramms für Religionsbeauftragte im nordrhein-westfälischen Dahlem gefüllt werden.
Lauter werden Vorwürfe an die deutsche Politik, einfach hinzunehmen, dass die DITIB weiter nur ein ausführendes Organ der türkischen Religionsbehörde Diyanet sei. Religionspolitisch hat sich in Deutschland seit der Gründung der DITIB 1984 nichts verändert. Genau wie 1984 verhandelt die Bundesregierung auch 2024 Grundsatzfragen muslimischen Lebens nicht mit Muslimen in Deutschland, sondern mit einer Religionsbehörde in Ankara, die seit dem 7. Oktober in Person ihres Chefs Erbas lupenreinen Antisemitismus betreibt. Im Übrigen bestimmten Erbas und Diyanet-Beamte als Mitglieder des religiösen Beirats der DITIB, wer Vorsitzender der DITIB wird. Anders als von Politikern aller Couleur gefordert, nable sich die DITIB also nicht vom türkischen Staat ab.
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