Die ukrainische Staatsflagge musste schnell noch eingeholt werden, denn nach der Abreise des ukrainischen Präsidenten Zelenskij wollten die saudischen Gastgeber dem neuen Besuch keine Unannehmlichkeiten bereiten. Denn es landete die Maschine des russischen Innenministers Wladimir Kolokolzew in Riad. Der Intimus des russischen Herrschers ist für die Unterdrückung unabhängiger Medien in Russland bekannt und ließ sämtliche Demonstrationen gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine brutal niedergeschlagen. Bereits seit 2018 steht er auf Sanktionslisten des Westens, unter anderem wegen Russlands Militärintervention in Syrien, mit Beginn des Ukraine-Kriegs verhängten auch Australien, Kanada, die Europäische Union, Japan, Neuseeland und Großbritannien Sanktionen gegen ihn. Die Herrscherfamilie in Saudi-Arabien scheint dies nicht zu stören, obwohl man sich dort bewusst ist, dass ein solcher Besuch bei den Partnern in Washington, Brüssel, Berlin, Paris und London sicherlich nicht goutiert wird.
Die neue Aussenpolitik des Golfstaates unter Kronprinz Mohammed bin Salman will sich weiter emanzipieren und stellt selbstbewusst die eigenen Interessen in den Vordergrund, nicht die des Westens. Es wurde bereits auf dem Gipfeltreffen der Arabischen Liga deutlich, als die 21 Mitgliedsländer nach 12 Jahren Ausschluss den syrischen Präsidenten Baschar Assad wieder in den Klub aufnahmen. Für den Diktator und Kriegsverbrecher aus Damaskus war das eine Genugtuung. Für den saudischen Kronprinzen, besser bekannt unter der Abkürzung MBS, scheint Moral keine Rolle zu spielen. Er war es, der mit seinem Einfluss den syrischen Paria wieder in die „Familie“ aufnahm.
Die Wiederaufnahme Syriens, einem der treuesten Verbündeten Russlands, war nur das eine Signal. Der Kronprinz hatte zum arabischen Gipfel auch den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenskij herzlich empfangen. Dieser konnte die Bühne nutzen, um für die Ukraine im Verteidigungskrieg gegen Moskau zu werben und übte sogar Kritik an den im Konflikt neutralen arabischen Staaten. Diese Außenpolitik Saudi-Arabiens, oft als widersprüchlich interpretiert, sollte eher als Indiz für eine neue „Pragmatik“ zur Durchsetzung nationaler sowie regionaler Interessen gesehen werden, vielleicht ist es eine Kopie der „multivektoralen Politik“ der Staaten in Zentralasien, allen voran Kasachstans.
Es geht also um eine neue Führungsrolle und Ordnungsgefüge im Mittleren Osten. Bin Salman, der als faktischer Herrscher von Saudi-Arabien gilt, hatte dies schon 2022 angedeutet. „Das Königreich Saudi-Arabien wird in fünf Jahren ganz anders aussehen“, sagte er damals auf einem großen Forum in der saudischen Hauptstadt. Er ist die treibende Kraft hinter Riads Vision 2030, einem Plan für wirtschaftliche und soziale Reformen. Seine Ideen fokussieren sich nicht nur auf eine wirtschaftliche und soziale Neuorientierung, sie schließen eine neue Außenpolitik mit ein: „Ich glaube, das neue Europa ist der Nahe Osten und wenn wir Erfolg haben, werden andere Länder sich uns anschließen“, sagte er.
Mittlerweile hat Riad in seiner Nachbarschaft auch einen direkten Partner gefunden. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate wollen gemeinsam „die Konsolidierung dessen vorantreiben, was man nur als neue regionale Sicherheitsarchitektur bezeichnen kann“. So fasst das renommierte Brookings Institute aus Washington diese Allianz zusammen. Es sei „ein neuer Rahmen für den Umgang mit Rivalitäten, der vielleicht die bedeutendste Veränderung der regionalen Dynamik seit der US-Invasion im Irak darstellt.“
Bisher war das Verhältnis der Länder des Mittleren Ostens durch ideologische, religiöse und politische Grabenkämpfe gekennzeichnet. Eine lange Liste von Konflikten erschütterte die Region. Dazu zählten etwa die Rivalität zwischen dem Iran, Katar und Saudi-Arabien, die Bürgerkriege in Libyen und im Jemen. Und dann war da noch das gespannte Verhältnis der arabischen Staaten zur Türkei und vor allen Dingen zu Israel. Diese teilweise langjährigen und hartnäckigen regionale Diskrepanzen sind heute lange nicht beigelegt. Aber es fand eine Deeskalation statt.
So beschlossen Saudi-Arabien und der Iran im März überraschend ihre Beziehungen zu normalisieren. Diese Annäherung beider Staaten ermöglichte den Weg für die bisher längste Waffenruhe im jahrzehntelangen Bürgerkrieg im Jemen. Saudi-Arabien versöhnte sich auch mit der Türkei und unterschrieb Abkommen über umfangreiche Wirtschaftsprojekte. Und dann gab es noch den historischen Abraham Akkord, in dessen Rahmen vier arabische Staaten – die Vereinigten Arabischen Emirate, Marokko, Bahrain und der Sudan – die Beziehungen zu Israel normalisierten. Saudi-Arabien ist nach eigenen Angaben noch nicht so weit, um mit Israel Frieden zu schließen, aber das Verhältnis zum jüdischen Staat hat sich trotzdem wesentlich entspannt. Es bleibt noch abzuwarten, ob Riad eine Versöhnung mit Israel langfristig unterstützt, oder ob es vielmehr eine Chance für sich wittert, nicht nur auf der arabischen Halbinsel die neue Ordnungsmacht zu spielen, sondern auch im östlichen Mittelmeer seinen Einfluss auszubauen. Die derzeitige politische und gesellschaftliche Instabilität in Israel mag da für MBS hilfreich sein.
Riad nutzt die geopolitischen Veränderungen. Dazu gehört der schwindende Einfluss der USA im Nahen Osten und auch ein durch den Ukraine-Krieg geschwächtes Russland. Die Welt verwandelt sich zunehmend in eine multipolare internationale Ordnung, die nicht mehr von einem antagonistischen Verhältnis zweier Mächte wie einst im Kalten Krieg geprägt ist. So ist die Türkei in den vergangen zehn Jahren zu einer Regionalmacht avanciert. Ein Aufstieg, den Saudi-Arabien im Mittleren Osten nachahmen möchte. Das finanzstarke und erdölreiche Königshaus will Allianzen und Entscheidungen in der Region nicht mehr anderen überlassen, sondern selbst aktiv gestalten. Es bleibt abzuwarten, ob es damit erfolgreich sein wird.
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